Tomas Venclova "Ich ersticke"
Tomas Venclova
Litauen auf nationalistischen Irrwegen
Dieser Text von Tomas Venclova erschien in der Zeitschrift Osteuropa (01/2011), der Deutschen Gesellschaft Osteuropa, Berlin.
Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Übersetzerin Andea Huterer.
Wir leben in einer Zeit des Skeptizismus, des freien, kritischen Denkens
und des globalen Denkens. In Litauen jedoch beklagt die geistige Führungsriege
Euro-Kollaboration und Indoktrination im Zeichen der Globalisierung.
Sie predigt Intoleranz gegen Minderheiten und verschanzt sich
hinter einer Mauer aus Fremdenhass und vermeintlichem Nationalstolz.
Polen, Juden, Russen und neuerdings auch die USA gelten als feindliche
Mächte. Diese Haltung ist auch ein Erbe der Sowjetzeit, als den
Menschen eine primitive Mentalität eingeimpft wurde, die Xenophobie
und Hass auf „Kosmopoliten“ beinhaltete.
Im Jahre 423 v. Chr. wurde Aristophanes’ Stück Die Wolken bei den Großen Dionysien
in Athen uraufgeführt. Die Komödie errang nur den dritten Preis hinter dem Sieger,
Kratinos’ Die Flasche, und einem Stück von Ameipsias. Die anderen beiden Komödien
sind in Vergessenheit geraten, während Die Wolken bis heute gelesen und gespielt werden.
Es ist wohl Aristophanes’ literarisch bedeutendstes Werk, und dabei unbestreitbar
komisch.
Im Zentrum der Handlung steht der Großbauer Strepsiades, neben dessen Haus der
Philosoph Sokrates (der zu jener Zeit noch lebte und das Stück vermutlich sah) eine
Denkerschule errichtet hat. Strepsiades ist ein patriarchaler, aufrechter Landwirt,
dessen Sohn sich, wie es so geht, neuen Moden verschrieben hat und seinen Vater
dadurch in Schwierigkeiten bringt. Stellt er Strepsiades auch als leicht komische Figur
dar, so macht Aristophanes doch zugleich deutlich, dass nach seiner Überzeugung
ohne einen solchen Menschenschlag Gesellschaft und Staat schnell zusammenbrechen
würden. Für Strepsiades sind die wichtigsten Dinge die Sitten und Gebräuche der
Vorfahren und die nationalen heiligen Stätten. Er weiß, dass es richtig ist, an die alten
Götter zu glauben oder, genauer gesagt, Rituale zu deren Ehren abzuhalten. Alles ist
klar für ihn, er kann genau zwischen Gut und Böse, zwischen Schwarz und Weiß
unterscheiden. Demgegenüber ist Sokrates nach Aristophanes ein Skeptiker und Relativist,
der Dinge und Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Er sagt
nicht, dass Eltern immer Recht haben. Er zweifelt an den Göttern, das heißt an den
traditionellen Werten, wagt es gar, sie zu leugnen. Für ihn ist das denkende Individuum
wichtiger als das Kollektiv, die Gemeinschaft oder die Nation. Zudem beschränkt
sich sein Interesse, wie das von Strepsiades, nicht auf Attika, auf seinen
eigenen dēmos, sondern richtet sich auch auf andere Länder, ja auf das Universum –
Sokrates ist klar ein Globalist und Kosmopolit.
Heutzutage würden viele mutmaßen, Sokrates wäre Jude oder hätte zumindest eine
jüdische Mutter, oder aber seine Frau Xanthippe wäre Jüdin. Aber zu jener Zeit gab es
in Athen keine Juden, und es ist unwahrscheinlich, dass dort irgendjemand von ihnen
gehört hat. Schlimmer stehen die Dinge, wenn es um Homosexualität geht. Mochten
die alten Athener darin generell nichts besonders Verwerfliches sehen, so betrachtete
Aristophanes sie doch als obszön und abscheulich. Sokrates wiederum scheint ungeachtet
dessen, dass er verheiratet war, Abenteuern mit dem attraktiven Alkibiades und
anderen Männern nicht abgeneigt gewesen zu sein.
Strepsiades versucht erfolglos, an der Denkerschule zu studieren. Schnell kommt er
zu dem Ergebnis, dass Sokrates all das, was am heiligsten ist, entweiht, die Moral
untergräbt, das Denken vergiftet, die Jugend belästigt und somit das Rückgrat der
Nation schwächt, und dies zu einer kritischen Zeit, nämlich während des Peloponnesischen
Krieges. Am Ende der Komödie setzt er die Denkerschule mit Sokrates und
seinen Anhängern in Flammen. Sokrates’ letzte Worte im Stück sind: „Ich ersticke!“
Der Autor ist klar auf Strepsiades’ Seite, und Sokrates bekommt, was er verdient. Die
Komödie ist letzten Endes eine Denunziation, oder wie wir zu sowjetischer Zeit zu sagen
pflegten, ein donos (донос). Wie allgemein bekannt, wurde Sokrates von den Athenern
verurteilt und musste den Schierlingsbecher trinken . . . Dies geschah zwar viel später,
doch seine Ankläger wiederholten im Wesentlichen Strepsiades’ Argumente.
———
• Tomas Venclova (1937), litauischer Lyriker, Professor für Slavische Sprachen und Literaturen
an der Yale University, New Haven, Conn.
Von Tomas Venclova ist in OSTEUROPA erschienen: Die in der Kälte wohnten. Litauische
Dissidenz 1953–1980, in: Freiheit im Blick. 1989 und der Aufbruch in Europa [= OE, 2–
3/2009], S. 41–50. – Über den „Königsberg-Text“ der russischen Literatur und die Königsberg-
Gedichte von Iosif Brodskij, in: Die Zukunft Kaliningrads. Konfliktschichten und Kooperationsfelder
[= OE, 2–3/2003], S. 159–177. – Unabhängigkeit, in: Litauen zu Gast. Vom
Mythos der Mitte ins Zentrum des Interesses [= OE, 9–10/2002], S. 1209–1216.
Der vorliegende Text ist eine erweiterte Fassung des Textes: Aš dūstu, in: Bernardinai.lt.
Interneto dienraštis, 14.7.2010. Die Anmerkungen stammen von der Redaktion.
Unsere sokratische Welt des kritischen, globalen Denkens
In einem guten Drama ist eine Seite nie völlig im Unrecht. Dies gilt auch für den
Konflikt zwischen Strepsiades und Sokrates (oder, genauer gesagt, zwischen Aristophanes
und Sokrates). Einige von Strepiades’ Gedanken enthalten durchaus Wahres.
Aber was immer man auch sagen mag, es gibt doch einen entscheidenden Unterschied:
Sokrates hätte nicht Strepsiades’ Haus niedergebrannt und hätte ihn nicht bei
der Obrigkeit angezeigt.
Wie wir wissen, hat die Geschichte Sokrates zum Sieger erklärt. Aufs Ganze gesehen
leben wir in seiner Welt, einer Welt des Skeptizismus, der Gedankenfreiheit, der
kritischen Beurteilung traditioneller Werte und des globalen Denkens. Natürlich
schließt dies nicht den gesamten Globus ein – man denke an die islamischen Staaten –,
doch könnten in nicht allzu weiter Ferne auch Letztere mit eingeschlossen sein. Für
diese Welt haben wir teures Lehrgeld gezahlt – und zahlen es immer noch –, und doch
ist diese Welt mir lieber, oder ich finde sie zumindest interessanter als Strepsiades’
Welt. Hätte Strepsiades oder genauer gesagt seine Idee gesiegt, wir würden bis heute
in Gemeinschaften moralischer, hart arbeitender, patriarchaler Bauern leben, die ihre
Heimat lieben und nichts wissen, nichts wissen wollen über ferne Länder oder das
Universum und die im Übrigen von verhassten und wirklich gefährlichen barbarischen
Stämmen umzingelt sind. In Sokrates’ Welt haben Strepsiades und seine Werte
bis zu einem gewissen Grade überlebt – zumindest das, was wirklich wertvoll an
ihnen war, hat überdauert. Geblieben ist Aristophanes, weil er gut schreiben konnte
(wie Auden sagen würde: die Zeit hat ihm deswegen Vergebung gewährt, weil er gut
schreiben konnte).1 In Strepsiades’ Welt gäbe es nicht die geringste Spur von Sokrates,
ja nicht einmal von Aristophanes.
Die Wahrheit ist, Strepsiades konnte gar nicht gewinnen. Wenn eine Denkerschule –
ein Ort von Denkern – einmal entstanden ist, wird sie nie wieder verschwinden, und
möge man sie Hunderte Male niederbrennen. Sie wird immer wieder erstehen.
Unser Sokrates war Vytautas Kavolis.2 Niemand von uns ist Plato, Aristoteles oder
Xenophon. Aber es ist vielleicht nicht zu vermessen zu sagen, dass wir litauische Phaidons,
Phaidrosse oder Kritos sein müssen – Schüler, die dafür verantwortlich sind, das
Gedankengut ihrer Lehrer zu verbreiten und die Erinnerung an sie zu bewahren.
Litauens Intellektuelle auf Strepsiades’ Pfaden
Traurigerweise verspüre ich im heutigen Litauen, wie schon zu sowjetischer Zeit, dieses
brennende Verlangen, die Worte des Sokrates aus Aristophanes’ Komödie zu wiederholen:
„Ich ersticke!“ Vytautas Kavolis würde sie vermutlich ebenfalls wiederholen. Fast
all unsere bekannten Intellektuellen haben sich heute auf Strepsiades’ Weg statt auf den
des Sokrates begeben oder sind dabei, es zu tun, ungeachtet dessen, dass über die ganzen
2500 Jahre hinweg, die zwischen damals und heute liegen, Sokrates’ Weg als der
einem Intellektuellen angemessenere betrachtet wurde. Da ist die Rede von traditionellen
litauischen Werten, als Gegenstück zu und Anathema gegen die dubiosen Werte
Europas und der Globalisierung. Globalisierung ist vermeintlich ein bloßes Deckmäntelchen
und Pseudonym für skrupellosen Raubkapitalismus, und die einzigen, die von
diesem Raubkapitalismus profitieren, sind dunkle internationale Mächte. In der Regel
wird es nicht laut ausgesprochen, aber man gibt doch recht deutlich zu verstehen, dass
damit die Juden (etwa George Soros) gemeint sind.
Diese Mächte zerstören vorsätzlich Nationen, allen voran die litauische Nation, die sie
mehr als alle anderen hassen. Je mehr Toleranz, desto weniger Litauen, so der Philosoph
Arvydas Juozaitis: Wenn wir tolerant sind, werden wir von fremden Kulturen
und Rassen überschwemmt, alle möglichen Eindringlinge werden unsere geheiligten
Bernsteinstrände in Beschlag nehmen, Eindringlinge, gegen die wir uns zur Sowjetzeit
verzweifelt und mehr oder weniger (wenn auch nicht gänzlich) erfolgreich verteidigt
haben. Der Philosoph Vytautas Radžvilas spricht von globalistischer Indoktrinierung,
Gehirnwäsche und Euro-Kollaboration.
———
1 Der Schriftsteller W.H. Auden (1907–1973) verfasste 1939 ein Gedicht zum Gedenken an
den verstorbenen Dichter W.B. Yeats (In Memory of William Butler Yeats), in dessen Urfassung
er die Zeit als Instanz anruft, die über das Bleiben von Dichtung und den Nachruhm
von Dichtern urteilt. Danach zählt vor der Zeit allein die Sprachkunst eines Schriftstellers,
nicht aber seine möglicherweise bedenkliche politische Haltung: „Time [. . .] | Pardoned
Kipling and his views, | And will pardon Paul Claudel, | Pardons him for writing well.“
2 Vytautas Kavolis (1930–1996), Soziologe und Kulturwissenschaftler, floh 1944 aus Litauen
nach Deutschland und ging 1950 in die USA.
Über den Wolken: Aristophanes, Vytautas Radžvilas (o. rechts) und Arvydas Juozaitis (u. rechts)
Für viele unterscheidet sich diese Euro-Kollaboration nicht von der Kollaboration mit
den Sowjets, nur dass sie vielleicht noch schlimmer ist, weil die Nation nun in schnellerem
Tempo verschwindet. Der Philosoph Romualdas Ozolas erteilt xenophoben Gruppen
seinen Segen. Diese Gruppen geben sich nicht damit zufrieden, die Landesbewohner
in Litauer und Nicht-Litauer zu unterteilen, sie unterteilen die Litauer weiter in Gute
und Böse, Authentische und Kosmopoliten, ja sogar in „genetische Patrioten“ und „genetische
Verräter“. Ein echter Litauer ist ausschließlich der, der Russen, Polen, Juden
und auch Leute aus dem Westen nicht mag, ja besser noch hasst. Die einzigen, die er
vielleicht mag, sind Palästinenser (übrigens fällt es nicht schwer sich vorzustellen, was
unsere Patrioten über Palästinenser zu sagen beginnen würden, wenn sie ihnen routinemäßig
begegneten, wie es ihnen mit den Tschetschenen ergangen ist).
Das Parlament macht sich zum Gespött Europas – löst aber ebenso häufig Horrorgefühle
in Europa aus, indem es ein Gesetz verabschiedet, das den Buchstaben W aus
Pässen verbannt und einen Bann gegen Informationen über Sex verhängt, während
Personen, die sich selber als Freiheitskämpfer betrachten, Steine auf Teilnehmer einer
„Schwulenparade“ werfen (aber Gott behüte niemals auf solche eines Aufmarsches
von Neonazis). Warte nur ein Weilchen, und du wirst wahrscheinlich Parlamentsabgeordnete
sehen, die sich am Niederfackeln von Denkerschulen beteiligen.
Sowjetisches Erbe: Xenophobie und Isolationismus
Einmal las ich – nicht in der litauischen Presse – ein Interview mit einer jungen Frau
aus einem anderen europäischen Land, die auf die Frage antwortete, was der Unterschied
zwischen der politischen Szene in Ost- und in Westeuropa sei. „Sehen Sie, ihr
habt keine Linke“, sagte sie. „Diejenigen, die ihr Linke nennt, nennen wir Rechte.
Und die, die ihr Rechte nennt, nennen wir Bekloppte.“
Leonidas Donskis, einer unserer wenigen Intellektuellen, die den sokratischen Eid
nicht gebrochen haben, stellt offen die Frage: Was ist mit uns geschehen? Leider ist
nichts Besonderes geschehen: Ähnliche Tendenzen kamen schon zur Zeit der litauischen
Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis in der Sowjetunion auf, wenngleich damals
das Freiheitsstreben so dominierend und das Freiheitsversprechen so verlockend waren,
dass man eher versuchte, sie nicht wahrzunehmen. Das sowjetische System musste
man aus drei Gründen ablehnen. Erstens war es ökonomisch dysfunktional; es
drängte das Imperium und damit auch Litauen in eine verarmte, hoffnungslose Rückständigkeit.
Zweitens unterdrückte es auf schändliche Weise die Rede-, Gedankenund
Gewissensfreiheit und ermutigte Lügen und Konformität. Drittens isolierte es uns
von der Welt und somit von neuen Ideen, von Errungenschaften in den Bereichen
Wissenschaft und Konsum.
Gleichzeitig gab es keine echten Bedrohungen für die Nation, zumindest nicht nach
dem Ende der Stalinära. Dies wird eindrücklich dadurch belegt, dass Nation und
Sprache nicht ausgestorben sind und in über 50 Jahren nicht einmal Schwunderscheinungen
zeigten. In der Stalinzeit dachten die Sowjets weniger in Kategorien von
Ethnizität denn von Klasse, und später, nach Stalin, in vollkommen pragmatischen
Kategorien: Solange du dich unserer Herrschaft nicht entgegenstellst, wirst du nicht
zerstört werden und kannst eine Karriere verfolgen, ungeachtet deiner ethnischen
Zugehörigkeit. Deine Mentalität und deine Moral sind etwas Anderes: Wir werden sie
in eine Richtung lenken, die uns nutzt.
Worauf die Sowjets wirklich bedacht waren, das erreichten sie: Sie demoralisierten
ernsthaft die von ihnen Beherrschten, ohne Ansehen der Sprache, die sie sprachen,
oder ihrer Selbstauffassung. Darüber hinaus impften ihnen die Sowjets eine beschränkte,
primitive Mentalität ein, die auch Xenophobie und Hass auf alle Arten von
„Kosmopoliten“ beinhaltete. Im Wesentlichen konservierten sie auf perfekte Weise
exakt die Sorte litauischer Nation, die unsere Pseudo-Intellektuellen so lieben.
In der Sąjūdis-Zeit ließen sich die Massen am einfachsten mobilisieren, indem man das
nationale Moment betonte, da dies keine tiefere Reflexion voraussetzte: Die Mehrheit
der Menschen reagierte automatisch oder halbautomatisch auf nationalistische Appelle;
Nationalstolz ist an sich eine ehrenhafte Sache. Der Enthusiasmus jener Zeit war wunderbar,
und die Opfer, die damals gebracht wurden, verdienen großen Respekt.
Doch heute sehen wir die andere Seite der Medaille nationalistischer Parolen. Seit
mindestens 50 Jahren, ja vielleicht länger (bezieht man die autoritäre Smetona-
Periode mit ein)3 fehlt es Litauen an einer normalen, „sokratischen“ intellektuellen
Kultur. Die Menschen sind daran gewöhnt, ausschließlich in ethnischen Kategorien
zu denken, und haben das Verlangen und die Fähigkeit verloren zu erkennen, dass es
noch andere Kategorien und andere Arten von Werten gibt, die manchmal sogar wichtiger
sein können. Ein primitiver, unreflektierter Nationalismus ist ans Ruder gekommen,
den ich einen „strepsiadischen“ Kult des eigenen dēmos nennen würde; das
Verlangen, Isolation und Provinzialität zu verewigen.
Die Tatsache, dass Litauen die längste Zeit seiner Geschichte eine Agrargesellschaft
von Kleinbauern war, verleiht dieser Art von Nationalismus Rückhalt und Stärke.
Verstärkt wird er zudem durch neue historische Phänomene wie eine wachsende Ungleichheit,
verbreitete Korruption, die globale Wirtschaftkrise und die zunehmende
Enttäuschung von Konsumerwartungen (also genau solche Erscheinungen, wie sie
seinerzeit zum Aufstieg des Nationalsozialismus – wie im Übrigen auch des Kommunismus
– beitrugen). Ich sage es nur ungern, aber man kann wohl kaum mehr bezweifeln,
dass viele unserer Intellektuellen, die sich nun auf den Strepsiades-Weg begeben
haben, in Wirklichkeit nie richtige Intellektuelle waren; sie waren wohl eher Karrieristen,
denen es nicht gelang, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, der ihren Vorstellungen
entsprach, und deren Frustration perfekt mit derjenigen großer Bevölkerungsgruppen
korrespondiert.
Es ist leicht zu erkennen, dass wir nicht die Einzigen in einer solch misslichen Lage
sind. Aggressive Fremdenfeindlichkeit, Isolationismus und ein ausgesprochen finsterer
Klerikalismus sind auch in Polen klar erkennbar, vielleicht sogar noch stärker
ausgeprägt als in Litauen (unsere Kirche ist nicht so einflussreich, ist dabei aber auch
nicht so stark nach rechts abgedriftet). Es ist wahr, dass Polen über eine lebendigere
Protestkultur gegen diese Phänomene verfügt – dort gibt es eine starke, mächtige
Gruppe von Intellektuellen von Adam Michnik bis Andrzej Wajda, welche die Dinge
ausgezeichnet analysieren und bremsend wirken. Schlechter ist die Lage wohl in
Ungarn und der Slowakei, wo faschistoide Tendenzen den Machtapparat tief durchdrungen
haben und es nur eine schwache Opposition dagegen gibt. Man könnte ebenso
einige Probleme erwähnen, die unsere baltischen Nachbarn betreffen. Doch beschränken
wir uns auf Litauen.
———
3 Antanas Smetona (1874–1944), 1919/20 und 1926–1940 litauischer Staatspräsident, errichtete,
gestützt auf den Bund der litauischen Nationalisten, einen totalitären Einparteienstaat, floh
nach dem Einmarsch der Roten Armee 1940 über Deutschland und die Schweiz in die USA.
Litauische Intellektuelle als Jünger Carl Schmitts
Es ist recht und billig, seine Heimat, seine Nation und seine litauische Identität zu
lieben. Ich füge hinzu, dass für mich persönlich das Gedeihen der litauischen Nation
und Sprache außerordentlich wichtig ist, weil ich nicht nur ein Publizist bin, sondern
in erster Linie ein Dichter: Das Schicksal des litauischen Wortes wiegt viel für mich.
Ich möchte ganz einfach einen Leser haben, nicht nur heute, sondern auch in Zukunft.
Und doch stimme ich nicht damit überein, dass es richtig wäre, nur die spezifische
Heimat, Nation und litauische Identität zu lieben, die sich viele unserer Philosophen
und Nicht-Philosophen vorstellen: „Als ob du sie liebst und fertig! Und nie darüber
reflektierst.“ Die Nation ist nach der Vorstellung dieser Philosophen und Nicht-
Philosophen unerhört schwach und hilflos: Wenn du sie nicht mit einem stabilen Zaun
einhegst, idealerweise mit Stacheldraht, droht ihr der sofortige Untergang. Sie muss
natürlich auch einen Feind haben.
Die Doktrin eines Denkers, der den Nazis nahe stand, nämlich Carl Schmitt, ist in
Litauen recht populär, ohne dass die Befürworter dieser Doktrin unbedingt dessen
Namen kennen. Dieser Doktrin zufolge lassen sich Nation und Gesellschaft nur durch
das Bild eines Feindes integrieren und zusammenhalten. Die Sowjets waren Musterschüler
von Schmitt, obwohl auch sie nicht immer von ihm gehört hatten. Auch wir
können oftmals nicht glauben, dass Litauen unter den Bedingungen der Freiheit über
leben kann, ohne Feinde zu haben oder solche zu fabrizieren. Es will nicht in unsere
Köpfe hinein, dass die Welt vielleicht doch nicht so böse ist oder dass globale Politik
nicht unbedingt zu unserem Schaden betrieben wird.
Vytautas Radžvilas spricht vom Verlust der litauischen Eigenstaatlichkeit, von Denationalisierung
und der Dekonstruktion von Staat und Nationalbewusstsein in der
Europäischen Union. Es mag befremdlich wirken, aber ich stimme in Teilen mit ihm
überein. Ja, der anachronistische Staat und das nationale Bewusstsein des 19. Jahrhunderts
und der Smetona-Zeit, welches die Sowjets konservierten, sind dabei, dekonstruiert
zu werden, und sie hätten schon vor langer Zeit dekonstruiert gehört. Ein neuer
Staat und ein neues nationales Bewusstsein müssen erstehen, wie sie heutzutage bei den
Deutschen, Engländern oder Franzosen zu sehen sind, nicht aber wie die von Radio
Maryja in Polen oder von Aleksandr Dugin und Aleksandr Prochanov in Russland.
„Meine Adresse ist kein Haus und keine Straße, meine Adresse ist die Europäische
Union“, sagt Radžvilas ironisch. Das stimmt, meine Adresse ist nicht irgendein unbedeutendes,
isoliertes Litauen, das voller Hass und Angst um sich blickt, sondern ein
Litauen in Europa, ein Litauen in der Welt. Es ist im Interesse des litauischen Staates,
sich in das globale Kommunikationsnetzwerk zu integrieren – in das sich, nebenbei
bemerkt, auch unsere traditionellen Feinde allmählich integrieren –, statt sich davon
abzuzäunen. Die Europäische Union, was immer sie auch sein mag und was für Krisen
auch immer sie durchmacht, verändert sich und wächst, sie ist auf der Seite von
Sokrates, nicht von Strepsiades. Sie mit der Sowjetunion zu vergleichen, ist böswillige
Demagogie – so oder so kennt jeder Litauer den Unterschied zwischen Kolyma auf
der einen und Dublin oder London auf der anderen Seite.
Atavistischer Nationenbegriff und Unabhängigkeitsfetischismus
Wir leben in einer Epoche, in der das Konzept der Nation selbst sich zu wandeln
beginnt. Zum ersten wird in Zeiten des Internets und des internationalen Flugverkehrs
die Verbindung zwischen Nation und Territorium schwächer. Heutzutage kann man
auch dann Litauer sein und produktiv am Leben in Litauen teilhaben, wenn man seinen
Hauptwohnsitz auf einem anderen Kontinent hat. Natürlich muss hierfür das
Problem der litauischen Staatsbürgerschaft vernünftig gelöst werden. Zum zweiten
wird Nation mehr zu einer Sache der freien Wahl als zu einer der Abstammung. Viele
Menschen erliegen dem Schreckgespenst des Rassismus, wenn sie sich vorstellen
sollen, dass eine Person aus Vietnam oder mit dunkler Hautfarbe als Litauer bzw.
Litauerin gelten soll, wenn sie in Litauen lebt, die litauische Staatsbürgerschaft hat,
ihre staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt und Litauisch spricht – und dass ihre Kinder
umso berechtigter als Litauer gelten können (und müssen). Doch dies ist die einzige
humanistische und moderne Haltung hierzu, und somit die einzig akzeptable.
Im Übrigen ist all dies nichts Neues. Die Mehrzahl der Juden wie auch der Iren lebt in
der Diaspora, und dies fügt Israel und Irland keinerlei Schaden zu. Auch die italienische
Diaspora ist groß, ebenso wie die griechische und andere, aber weder Italien
noch Griechenland sind daran zugrunde gegangen. Zudem haben europäische Staaten
traditionell viele Immigranten aufgenommen und tun es weiterhin. Trotz der Probleme,
die es in diesem Zusammenhang gibt, und trotz der Versuche von Rassisten, diese
Probleme zu überzeichnen, hat bislang keine Nation innerhalb der Europäischen Union
Symptome gezeigt, die auf einen Verlust ihrer Ethnizität hindeuten würden. Mehr
noch, viele von ihnen wären ohne ihre Immigranten schon lange wirtschaftlich und
somit auch als Staaten und ethnische Gemeinschaften ruiniert.
Dann ist da auch noch ein psychologischer Komplex, den ich „Unabhängigkeitsfetischismus“
nennen würde. Autarke, uneingeschränkte Eigenstaatlichkeit wird als absoluter,
primärer Wert betrachtet, ungleich wichtiger als Demokratie, menschliche Würde
und gesunder Menschenverstand. Mit Emotionen und ekstatischen Liturgien wird
diese Haltung zu untermauern versucht. Versuche, sie zu modifizieren oder in Frage
zu stellen, werden als Hochverrat aufgefasst, auf den die schwersten Strafen bis hin zu
standrechtlicher Erschießung stehen, entweihen sie doch vorgeblich die in Jahrhunderten
vollbrachten bzw. durchlebten Heldentaten und Leiden der Nation.
Aber Unabhängigkeit ist kein Selbstzweck; sie ist ein Weg, um das Wohl der Nation
sicherzustellen. Sicher ist sie der geeignetste Weg, und dies ist der Grund, warum ich
mich mein ganzes bewusstes Leben hindurch für ein unabhängiges Litauen ausgesprochen
habe. Aber eine Unabhängigkeit ohne jede Einschränkung ist praktisch unmöglich,
und wenn sie möglich wäre, so wäre sie schädlich. Sie ist ein anachronistisches, von den
Träumern des 19. Jahrhunderts ererbtes Gedankenkonstrukt. Schon möglich, dass in
(recht ferner) Zukunft an die Stelle unabhängiger Staaten eine globale Union tritt – eine
Weltordnung, deren Umrisse bereits erkennbar sind –, doch dies würde keineswegs
bedeuten, dass ethnische Unterschiede, Sprachen und Traditionen verschwinden würden.
Gegenwärtig gibt es keine völlig unabhängigen Staaten, außer vielleicht Nordkorea.
Alle anderen Länder, einschließlich der USA und Russlands, begrenzen ihren eigenen
Handlungsspielraum in mehr oder weniger hohem Maße, unter Berücksichtigung
der Interessen Anderer (es kommt zwar vor, dass diese Interessen nicht berücksichtigt
werden, aber dafür werden die entsprechenden Staaten dann – zu Recht – scharf kritisiert).
Wenn jemand im perfekt unabhängigen Nordkorea leben möchte – bitte sehr, aber
er möge dies bitte nicht für die litauische Nation vorschlagen.
Das „litauische Bermudadreieck“ – Konflikte mit Russen, Polen, Juden
Es ist generell eine inakzeptable Praxis, den Staat zum Fetisch oder Idol zu erheben,
denn dies verstößt gegen das Erste Gebot wie auch gegen den gesunden Menschenverstand.
Emotionen und ekstatische Rituale sind eine recht gefährliche Angelegenheit;
sie zählen zu den Methoden, derer sich auch Nationalsozialismus und Stalinismus
bedienten. Heutzutage legitimieren Staaten ihr Existenzrecht nicht mit den heroischen
Taten und Leiden ihrer Urahnen, sondern mit einer funktionierenden Wirtschaft,
Justiz, Administration und Selbstverwaltung. In diesen Bereichen haben wir
leider immer noch nicht viel, auf das wir stolz sein könnten. Fremdenfeindlichkeit
und Isolationismus beeinträchtigen klar die Beziehungen zu unseren Nachbarländern.
Ich habe wiederholt über das gefährliche „litauische Dreieck“ (oder sollte ich sagen,
das „litauische Bermudadreieck“) gesprochen: über die Konflikte mit Russen, Polen
und Juden bzw. mit Russland, Polen und Israel.
In der Sąjūdis-Zeit und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit schienen zuweilen
diese Konflikte langsam, aber sicher bereinigt zu werden. Leider aber ist dies nicht so,
und heute gewinnen die Konflikte wieder deutlich an Schärfe. Man mag mir antworten:
„Wir tragen daran nicht allein die Schuld.“ Dem stimme ich zu, aber die Tendenz,
sich lauthals über die Schuld der anderen zu beklagen, macht, und sei es auch eine
noch so verständliche psychologische Reaktion, die Dinge nur schlimmer. Über seine
eigene Schuld zu sprechen (was innere Reife und ein gewisses Maß an Anstrengung
erfordert), kann dagegen Besserung bringen.
Ein tragischer Rückkopplungsmechanismus hat in den Beziehungen zu Wilna-Polen
eingesetzt: Die mangelnde Flexibilität der einen Seite verstärkt die der anderen. Dieser
Mechanismus ist wohl seit 1939 im Gange. Als Vilnius an Litauen zurückfiel, konnten
viele Bewohner noch recht einfach auf die litauische Seite überwechseln. Oftmals waren
sie damit einverstanden oder wünschten es sogar, Litauer genannt zu werden, wenn
auch Litauer anderer Art, die Polnisch sprachen und ihre Bindung an die polnische
Kultur aufrechterhalten wollten. Dies war schlicht eine komplexere Form der ethnischen
Identität, wie sie typisch für Menschen wie Mykolas Riomeris war.4 Anderen fehlte es,
wie wir wissen, an einer klaren ethnischen Identität. Eine weitere Gruppe waren Polen
nicht-lokaler Abstammung, und gegen diese gab es Formen der Diskriminierung.
1939 setzte dann eine aggressive, resolute Lituanisierung des Gebiets ein, ohne Rücksicht
auf dessen spezifische Natur, auf komplexe oder auch weniger komplexe Formen
der ethnischen Identität. Dies wurde, soweit möglich, auch unter der nationalsozialistischen
Besatzung fortgesetzt, was wiederum zu einer litauerfeindlichen Stimmung
unter der lokalen Bevölkerung führte; viele entschieden sich für ein Bekenntnis
zum Polentum anstelle des Litauertums. Es gab auch andere Gründe, aber ich denke,
es kann kein Zweifel bestehen, dass unsere engstirnigen Patrioten in hohem Maße mit
verantwortlich für diese Entwicklung waren.
Heute ist es vermutlich weit schwieriger als damals, diese Animositäten auszurotten.
Ich kann nur empfehlen, kein Öl ins Feuer zu gießen. Manche unserer Politiker betrachten
Polen und andere ethnische Minderheiten als illoyal ex definitione, ganz zu
schweigen von Führungspersonen innerhalb solcher ethnischer Gemeinschaften, die
schlicht als fünfte Kolonne gelten. Selbst wenn man sich dieser Haltung anschließt –
was mir abwegig erscheint –, so ist es im Interesse des Staates, dieser fünften Kolonne
keinen Zuwachs zu verschaffen, sondern sie auszudünnen, andere ethnische Minderheiten
nicht wegzustoßen, sie nicht ständig zu attackieren, ihre Feindseligkeit nicht
herauszustreichen und nicht ihre vermeintlichen Komplotte und Verschwörungen
aufzudecken, sondern genau das Gegenteil zu tun, nämlich sie einem mit verschiedenen
rationalen Methoden, einschließlich Konzessionen, näher zu bringen.
Die litauisch-jüdischen Beziehungen stagnieren. Auf litauischer Seite hält sich der
Ärger auf Efraim Zuroff,5 und weiterhin gibt es Versuche, eine Theorie des „doppel-
ten Genozids“6 zu fundieren, während gleichzeitig gefordert wird: „Wagt es nicht, uns
eine Nation von Judenmördern zu nennen.“
Zweifellos sind die Litauer keine Nation von Judenmördern. Doch unglücklicherweise
hat es in jüngster Zeit Aktionen gegeben, die Argumente dafür liefern, die Litauer
eine Nation von Fürsprechern von Judenmördern zu nennen. Was immer man über
Efraim Zuroff denken mag, er hat Recht, wenn er sagt, dass die Litauer, anders als die
Kroaten, keinen einzigen Judenmörder verurteilt haben. Im Gegenteil gibt es, auch
wenn dies in der Öffentlichkeit und von den Gerichten so nicht artikuliert wird, eine
deutlich wahrnehmbare Haltung, dass es vollkommen richtig sei, solche Verfahren
stillschweigend zu sabotieren. Wir sind nicht reif genug zu verstehen, dass es unzulässig
ist, einen Schwerverbrecher zu rechtfertigen oder zu unterstützen, nur weil er
ein ethnischer Litauer ist (der sich selbst als Patrioten betrachtet) und seine Opfer oder
Ankläger keine Litauer sind.
———
4 Mykolas R(i)omeris (Michał Pius Römer), 1880–1945, litauischer Verfassungsrechtler und
Richter aus einer polonisierten Familie von Baltendeutschen.
5 Efraim Zuroff (geb. 1948), Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem und Koordinator
der „Operation Last Chance“ zur Aufspürung der letzten noch lebenden NSVerbrecher.
Zuroff vertritt die These, dass es in Litauen nach wie vor Bemühungen gibt, die
Geschichte des Holocaust umzuschreiben. Die massenhafte Mittäterschaft von litauischen
Kollaborateuren werde weiterhin verdrängt und vertuscht, Massenmörder in Diensten der
Nazis seien nach dem Ende der Sowjetunion rehabilitiert worden.
Fehlbeurteilung der Provisorischen Regierung und falscher Genozid-Begriff
Ich habe mehr als einmal gesagt und sage weiterhin, dass auf diesem Gebiet zwei
schwere Fehler gemacht worden sind, die früher oder später korrigiert werden müssen.
Der erste Fehler betrifft die Provisorische Regierung von 1941. Es muss offen
und ohne Vorbehalte erklärt werden, dass das neue Litauen es kategorisch ablehnt,
diese Episode unter seine ruhmvollen, hochzuhaltenden Traditionen einzuordnen. Die
Provisorische Regierung unterschied sich nicht essentiell vom Tiso-Regime in der
Slowakei oder Pavelićs Ustaša-Staat in Kroatien, zwei Regimen, die kein ernstzunehmender
Historiker als positive Erscheinungen beurteilen würde.
Wir dagegen bezeichnen Mitglieder der litauischen Provisorischen Regierung als
Patrioten, was sie subjektiv betrachtet auch waren; aber wir können keine Patrioten
ehren, die ihrem Land einen so großen Schaden zugefügt haben, dass wir es bis auf
den heutigen Tag nicht geschafft haben, ihn zu tilgen. Sie haben Litauens Prestige
mehr geschadet als mancher Feind des Landes. Wenn es gestattet ist, einmal ein „alternatives
historisches Gedankenexperiment“ durchzuführen, so stellen wir uns bitte
vor, die westlichen Alliierten hätten Litauen 1944 befreit und Stasys Lozoraitis, das
damalige nominelle Staatsoberhaupt, wäre zurückgekehrt. Zweifellos hätte es dann
(wie widerwillig auch immer) einen Prozess gegen die Provisorische Regierung geben
müssen, wie es den Pétain-Prozess in Frankreich gab.7 Auch Pétain war ein Patriot,
der sich auf dem Schlachtfeld um Frankreich verdient gemacht hatte, und er tat sein
Bestes, um Frankreichs Unabhängigkeit zu bewahren, aber um den Preis eines Bünd-
nisses mit Hitler. Einige der Mitglieder der Provisorischen Regierung wären möglicherweise
freigesprochen worden, aber sicherlich hätte keiner von ihnen einen Verdienstorden
erhalten, und keiner wäre zum Patriarchen der Nation erklärt worden. Es
sei daran erinnert, dass sich nach dem Krieg Lozoraitis und einige Zeit lang auch die
VLIK (das Oberste Komitee zur Befreiung Litauens) ziemlich deutlich von der Provisorischen
Regierung distanzierten.
Der zweite Fehler war die Ausweitung des Konzepts des Genozids, das die Unterschiede
zwischen dem Holocaust und anderen totalitären Verbrechen verwischte (übrigens
förderten die litauischen Emigranten noch vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit
diese begriffliche Ausweitung). So sollte das „Museum der Opfer des
Genozids“ im Zentrum von Vilnius eher „Museum der kommunistischen Verbrechen“
heißen. Ansonsten wird es immer eine Quelle für Spannungen und Konflikte sein,
entgegen nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch dem Interesse des
litauischen Staates.
———
6 Im Zusammenhang mit dem Bedürfnis vieler Litauer, als Opfer des sowjetischen Regimes
wahrgenommen zu werden, ist oft vom sogenannten „doppelten Genozid“ die Rede: Die nationalsozialistischen
Verbrechen, der Völkermord an den Juden, werden dabei gleichgesetzt
mit den sowjetischen Verbrechen am litauischen Volk; die litauische Kollaboration mit den
NS-Besatzern wird dadurch gerechtfertigt, dass „die Juden“ angeblich die sowjetische Okkupation
und die Deportationen von litauischen Staatsbürgern nach Sibirien 1940/41 unterstützten.
7 Im August 1945 wurde Marschall Henri Philippe Pétain (1856–1951) von einem französischen
Gericht wegen Hochverrats und Kollaboration mit dem Feind zum Tode verurteilt;
Charles de Gaulle wandelte das Urteil in lebenslange Festungshaft um.
Russland – (kein) Inbegriff des Bösen
Am kompliziertesten gestalten sich die Beziehungen zu Russland, denn jenes bietet
dieser Tage viel Anlass zu Misstrauen. Aber man sollte nicht übertreiben, schließlich
könnten die Dinge durchaus auch eine andere Wendung nehmen. Dutzende unserer
Politikexperten und Journalisten haben sich darauf spezialisiert, Russland zu demaskieren
(wie im übrigen auch Wilna-Polen und „falsche jüdische Ansprüche“). Dem
liegt ein Denken zugrunde, demzufolge Russland gegenüber Litauen grundsätzlich
feindliche Interessen verfolgt, was gar nicht anders sein könne. Die Russen sind danach
keineswegs Opfer des Stalinismus, sondern vielmehr seine bewussten Verfechter
und Nachfolger (gleichzeitig geben dieselben Leute ihren Zuhörern zu verstehen, dass
der Stalinismus hundertmal schlimmer ist als der Nationalsozialismus).
Was immer Russland auch tut, nach dieser Auffassung hegt es immer böse Intentionen.
Jeder Feind Russlands, wie unverantwortlich, inkompetent oder wenig zivilisiert
er auch sein mag, ist danach automatisch Litauens Freund. Hat Russland Erfolg, ist
dies schrecklich, erleidet es einen Rückschlag, ist dies ein wahrer Segen. Ein florierendes
Russland, das eine wirtschaftliche und kulturelle Wiedergeburt erlebt, wäre
das schlimmste aller Dinge, die Russlands Nachbarn und der Welt zustoßen könnten.
Und der naive oder selbstsüchtige Westen, der dabei ist, sich mit Russland zu arrangieren,
und uns damit zu einem unsicheren, aber zweifelsohne düsteren Schicksal
verdammt, versteht dies nicht. All dies erinnert an eine Karikatur, die ich kürzlich in
einer polnischen Zeitschrift gesehen habe. Zwei Bauern sitzen auf dem Dach eines
Hauses inmitten einer Überschwemmung. Sagt der eine: „Du liebe Güte, was wird
sich dieser Putin wohl als Nächstes ausdenken?“
Meine Prognose ist eine andere. Ich schließe mich eher der Meinung Zbigniew Brzezinskis
an, dass wirtschaftliche und demographische Faktoren Russland zu einer Destalinisierung
zwingen werden und bereits zwingen, wenngleich dies für die Russen auch
in Zukunft ein Weg voller Hindernisse sein wird. Es gibt Grund genug für die Annahme,
dass Russland zu einer ähnlichen Lösung kommen wird wie seinerzeit Mustafa
Kemals Türkei. Alles in allem träumt die Türkei heute nicht mehr vom Imperium, sie ist
für niemanden mehr eine tödliche Bedrohung, weder für die Bulgaren noch für die
Serben oder Griechen, ja nicht einmal für die Armenier. Zudem ist die Türkei NATOMitglied
– gemeinsam mit Griechenland, gegen das sie noch vor nicht allzu langer Zeit
gekämpft hat und mit dem es immer noch Meinungsverschiedenheiten in der Zypern-
Frage gibt (so wie Russland territoriale Auseinandersetzungen mit Georgien hat).
Ein Russland, das Kemal Atatürks Türkei ähnlich wäre, käme unseren Interessen
entgegen, wenn auch nicht den Interessen unserer ewig die Konfrontation suchenden
Politiker, die keine andere Sprache sprechen. Wir sollten nicht zulassen, dass unser
permanenter Mangel an Vertrauen und unser beständiges Pochen auf unsere Ansprüche
das Entstehen eines solchen Russland behindern. Abgesehen davon hat die Mehrheit
der Litauer das endlose Begleichen von Rechnungen und das Demonstrieren alter
Wunden inzwischen wohl leidlich satt.
USA – vom besten Freund zum Feind?
Eine gesonderte Frage ist das Verhältnis zu den USA. Sogar hier ist in letzter Zeit ein
eigenartiger Umschwung zu beobachten. In den Jahren der sowjetischen Okkupation
war Amerika für die Litauer das einzige Land, das sie, wenn auch insgeheim, ohne
Vorbehalte liebten. Zwar erinnerten sie immer wieder daran, dass sie in Jalta von den
Amerikanern ebenso wie von den anderen westlichen Alliierten Stalin ausgeliefert worden
seien. Das sei natürlich nicht schön, doch immerhin betrachte Amerika, im Unterschied
zu den anderen Alliierten, die Annexion Litauens weiterhin als unrechtmäßig.
Und so brüstete sich jeder damit, dass wir in Washington nach wie vor eine Botschaft
hatten und der litauische Botschafter zu diplomatischen Empfängen eingeladen wurde.
Kaum ein Litauer hatte keinen Verwandten in Amerika – das Land hatte Zehntausenden
von Nachkriegsflüchtlingen Zuflucht geboten. Dabei lebten diese dort einfach
fantastisch, jedenfalls im Vergleich zu jenen, die daheim geblieben waren. Die amerikanische
Prosperität war legendär (die Tatsachenberichte darüber blieben freilich
überaus vage). Ebenso legendär war die amerikanische Massenkultur (die nur mit
großer Mühe nach Litauen vordrang). Wie auch die amerikanische Demokratie legendär
war (über die man überhaupt nichts wusste).
In den ersten Jahren nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit hielt sich dieser
„Mythos Amerika“. Alle Hoffnungen ruhten auf den USA und nur auf den USA. Als
George W. Bush 2002 in Vilnius verkündete, jeder, der sich Litauen zum Feind wähle,
mache sich damit auch die USA zum Feind, rief dies Begeisterungsstürme hervor:
Endlich brauchen wir uns nicht mehr vor einer Rückkehr Russlands zu fürchten!
Amerika wurde im Massenbewusstsein dem „kraftlosen“ Europa gegenübergestellt,
doch die bedingungslose Loyalität gegenüber Amerika stieß an ihre Grenzen, als dort
höchst zweifelhafte politische Entscheidungen getroffen wurden. Dies änderte sich
schlagartig, als Barack Obama an die Macht kam. Allein die Tatsache, dass ein Afro-
Amerikaner zum Präsidenten gewählt worden war, erschien unseren vielen Strepsiadessen
unerhört und verhieß in ihren Augen nichts Gutes. Umso mehr entsetzte sie
Obamas Wunsch, mit Russland normale Beziehungen zu pflegen: Dass, sagen wir,
Angela Merkel dies tut, ist Eines; etwas völlig Anderes ist es, wenn es um den Präsi-
denten des mächtigsten Staates der Erde geht. Den Xenophoben und Isolationisten
schien der Boden unter den Füßen weggezogen zu werden.
Heute ist nicht nur der „Antieuropäismus“, sondern auch der „Antiamerikanismus“ in
weiten Kreisen Mode geworden. Vom „Gift der amerikanischen Kultur“ ist da die
Rede, von erbarmungslosen Ausbeutern, wobei die Ausdrücke, die benutzt werden,
verdächtig an die der sowjetischen Propagandisten erinnern. Die litauische Präsidentin
erklärte – als einziges Staatsoberhaupt der Europäischen Union –, dass das New-
START-Abkommen schädlich für ihr Land sei und sie es daher nicht begrüßen könne.
So verwandelt sich das „Bermudadreieck“, von dem oben die Rede war, allmählich in
ein Viereck: Es hat sich noch ein Feind gefunden, und dazu noch ein ziemlich mächtiger.
Dies kann schwerlich in Litauens Interesse sein.
Fazit: Noch ist Litauen nicht verloren
Zurück zu Aristophanes. Was bleibt uns in der gegenwärtigen, nicht allzu froh anmutenden
Situation zu tun? Unsere Meinung zum Ausdruck zu bringen und sie zu verteidigen,
auch dann, wenn die Mehrheit der Nation oder der Intellektuellen dieser Nation
dagegen ist. Wir brauchen kleine, aber unbeirrbare Zirkel, kleine, aber moralisch
anständige „Denkschulen“. Es ist durchaus möglich, dass die Antwort darauf lauten
wird: „Ihr fordert Toleranz, seid aber uns, den wahren Patrioten Litauens, gegenüber
intolerant.“
Dies ist nicht so: Wir verbieten nur das Verbieten, wir verbieten Zwang. Wir sind für
normale demokratische Praktiken. Du magst Bedenken gegen Homosexuelle haben, sie
vielleicht sogar nicht mögen, aber du darfst sie nicht verunglimpfen oder sie mit Steinen
bewerfen. Du magst gegen Immigration eintreten, aber du darfst keine Immigranten
beschimpfen, verprügeln oder brutal deportieren. Du magst deine eigenen politischen
Ansichten haben, aber du darfst deine politischen Gegner nicht Tag und Nacht Verräter
nennen oder sagen, dass für sie kein Platz in Litauen sei. Du kannst gerne mit uns diskutieren
(und wir wollen nicht verhehlen, dass wir deine Meinung für falsch und anachronistisch
halten), aber du darfst nicht diskriminieren. Und wenn du versuchst, eine faschistoide,
neototalitäre Ordnung einzuführen, wirst du nicht nur auf Unzufriedenheit in
Brüssel stoßen, sondern auch auf zivilen Ungehorsam und Widerstand.
Summa summarum bleibe ich Optimist: Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit,
nach wirtschaftlicher und politischer Transformation wird auch die Zeit für eine
geistige Transformation kommen. Aber hierzu müssen wir selber beitragen, anstatt
uns denen auszuliefern, die versuchen, rückständiges Denken zu perpetuieren.
Aus dem Englischen von Andrea Huterer, Washington DC