Deutsch-litauische Beziehungen bei Ieva Simonaitytė

 

Von Dr.Silva Pocytė

 

Diese interessante Betrachtung erschien zuerst in den Annaberger Annalen 6-1998. Sie passt gut zu unserer Buchbesprechung vom 2019 erstmalig auf Deutsch erschienenem Buch "Vilius Karalius"

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Autorin. Dr. Silva Pocyte lehrt am Institut für Geschichte und Archäologie des Baltikums der Universität Klaipeda.


Die Schriftstellerin Ieva Simonaitytė wird von den litauischen Literaturforschern fast ohne Ausnahme als „Chronistin Kleinlitauens" bezeichnet und in der Nachfolge von Kristijonas Donelaitis gesehen. Sie begann ihre literarische Tätigkeit in der Mitte der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts mit einigen kleinen Gedichten in der litauischen Presse. Berühmt wurde sie aber als Prosaistin nach dem  rscheinen des Romans „Aukštujų Šimonių likimas" (Das Schicksal der Familie Šimonis aus Aukštujai) Mitte der dreißiger Jahre.
Deutsch-litauische Beziehungen als eine spezifische Erscheinung des Memellandes und ganz Kleinlitauens sind in den Werken von Simonaitytė ein besonders wichtiges Thema und bestimmen oft die Handlungen der Personen. Die Autorin stellt den sehr schmerzhaften Selbstfindungsprozess der Kleinlitauer seit den ersten Kontakten zwischen den Deutschen und Litauern oft in den Mittelpunkt ihrer Werke. Oft geben ihre persönlichen Erfahrungen den Hintergrund für ihre Sichtweise der deutsch-litauischen Beziehungen ab.
Die Betrachtung der deutsch-litauischen Beziehungen im Werk von Simonaitytė ist nur in Verbindung mit der Landesgeschichte möglich, sowie sie chronologisch im Roman „Aukštųjų Šimonių ikimas"1 anfängt und im Roman „Paskutinė Kūnelio kelionė" (Kūnelis' letzte Reise)2 endet.
Nicht alle Werke der Schriftstellerin sind für unser Thema relevant.
Eine besondere Bedeutung für unser Anliegen haben die Romane „Aukštujų Šimonių likimas"3, „Vilius Karalius"4 und die Erzählung „Pikčiurnienė"5.

 

In diesen Werken wird das Schicksal mehrerer Generationen von Kleinlitauern geschildert, das eng in Verbindung mit der unlösbaren Frage der kleinlitauischen Volksgruppe seit ihrer Existenz steht: warum ist das Deutschtum besser als das Litauertum? Warum nehmen im Bewußtsein und im Alltag der Kleinlitauer die Elemente der deutschen Kultur immer mehr überhand?
Dabei ist zu bedenken, daß in der Geschichtsforschung die deutsch-litauischen Beziehungen zu den am meisten ideologisierten und mit Stereotypen behafteten Themen gehören, z. B. daß die Deutschen Ausbeuter und die Litauer arm und ausgebeutet waren. Der eingedeutschte Litauer wird immer negativ geschildert, als einer, in dessen Leben die materiellen und nicht nationalen Interessen den Ausschlag gegeben haben. Solche ideologisierten Gedanken und Schlußfolgerungen sind für I. Simonaitytė besonders typisch in ihren nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen Werken. Dabei ist das Problem der nationalen Beziehungen natürlich viel komplexer. Im Verlauf der Geschichte entstand Kleinlitauen als eine eigene, multikulturelle Region an der Ostsee, in der Litauer und Deutsche nebeneinander und miteinander lebten. Gesellschaftliche und verwandtschaftliche Verbindungen untereinander führten zu einer Koexistenz, die mit der Zeit die Grundlagen der litauischen Existenz immer mehr gefährdete.
Die geschichtliche Landesentwicklung, die Besonderheit ihrer geopolitischen Situation, ihrer Demographie und sogar Psychologie formten bei den Kleinlitauern eine bestimmte Denkens- und Lebensweise.6 

Es ist nicht einfach, die Situation der Kleinlitauer und ihren immer schneller werdenden Entnationalisierungsprozeß zu verstehen und zu erklären. Seit der Reformation waren die Deutschen und die Kleinlitauer durch die gemeinsame Religion verbunden. Man kann sie als das wichtigste Band zwischen den beiden Volksgruppen betrachten, das zur Annahme der deutschen Kultur und ihrer politischen Traditionen bei den Kleinlitauern beitrug.
Doch ungeachtet des einigenden religiösen Bandes blieb zwischen den Deutschen und den Kleinlitauern eine soziale Barriere bestehen: der Litauer war Dorfmensch und Bauer, der Deutsche - Städter und Großgrundbesitzer.
Mit dem Hinweis auf diesen Aspekt stellt Simonaitytė auch die Eigenschaften der Deutschen und der Litauer gegeneinander:


Der Kleinlitauer ist gut, er „fügt keinem Menschen Leid zu und läßt auch nicht zu, daß ein anderer jemandem Leid zufügt, auch wenn dieser ein deutscher Edelmann wäre"7; der Deutsche ist schlecht, weil er aus der Stadt kommt, „aus diesem Vorhof der Hölle für den litauischen Menschen" 8, „weil er immer scheel den Bauern ansieht"9.
Gelegentlich hören wir aus dem Munde von Kleinlitauern auch ganz abwertende Worte über die Deutschen, die wohl ihre moralische Überlegenheit beweisen sollen. So soll die Mutter der Schriftstellerin mit Verachtung und erhobener Stimme gesagt haben, daß „nur die Deutschen auf eine so schreckliche Weise Tiere quälen könnten"10. An einer anderen Stelle äußern die Dorffrauen von Šalteikiai nach dem Tod des alten Karalius ihren Unwillen über die nüchterne Predigt des deutschen Pfarrers:
„Kann ein Deutscher einem litauischen Menschen überhaupt etwas geben? Er strengt sich doch gar nicht an, Gutes zu tun!"11


Im Roman „Aukštujų Šimonių likimas" wird sehr dramatisch die Große Pest von 1709-1711 in Kleinlitauen beschrieben, die eine Kolonisation des Landes zur Folge hatte. Sie wird als der Anfang des vielfältigen deutsch-litauischen Zusammenlebens gesehen, wobei ihre historische Perspektive die Worte eines Deutschen, der sich auf den Hof des alten Šimonis niederlassen will, markieren: „Wir sind Deutsche und nicht gekommen, um als Knechte zu leben, sondern als Herren. Die Deutschen sind nicht gewohnt, als Sklaven zu dienen, am wenigsten den Litauern". 12


Seit den ersten Kontakten zwischen Deutschen und Litauern ringt im Denken der Litauer ein immer noch litauisches mit einem bereits vom Deutschtum beeinflußten Selbstverständnis, das gemäß dem Literaturkritiker Vytautas Kubilius, nicht nur einzelne Dörfer, sondern auch Familien spaltete: „der Vater ist noch dem Litauertum verbunden, aber der Sohn versteht nicht mehr Litauisch; ein Bruder übernimmt eine Rolle bei einem litauischen Schauspiel, und ein anderer bei einem deutschen; die einen verlangen litauische Gottesdienste und die anderen sind bereit, dagegen eine Schlägerei anzuzetteln".13
Das wichtigste Kriterium für die litauische Identität war die Wahrung der Muttersprache. Den alten Šimonis quält der Kummer, daß der Sohn sein Kind deutsch getauft hat und es nicht mehr Litauisch sprechen lehrt14; der alte Karalius „reagiert viel fröhlicher, wenn er auf Litauisch angesprochen wird und beantwortet die Frage viel schneller, als auf Deutsch". Ganz allgemein „überhören"  manchmal die Bewohner von Šalteikiai die deutsche Sprache.15


Dennoch schwand bei dieser kulturellen Wechselwirkung der litauische Widerstand immer mehr. Dazu trug sogar die so behütete litauische Sprache bei. Die während der Reformation eröffnete Möglichkeit, in der Muttersprache zu beten und die Bibel zu lesen, übermittelte den Kleinlitauern in ihrer eigenen Sprache „preußische" Traditionen, wie Gehorsam und Untertanengeist dem König gegenüber oder Stolz auf die deutsche Ordnung. Die Kleinlitauer gerieten in einen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungsprozeß und fingen an, Fortschritt und sozialen Aufstieg mit dem Deutschtum zu verbinden. Die Frau von Šimonis freut sich, daß der aus Königsberg zurückgekehrte Sohn Mikelis mit seinen vielen fremden Wörtern „ein richtiger Herr und nicht ein Bauer ist"16.

Oft wird die „Rückkehr aus Deutschland" hervorgehoben, obwohl „sich auch Litauen mit,dem Dorf Šalteikiai in Deutschland befindet"17.

 

Diese Einstellung ging offenbar Hand in Hand mit der Ausbreitung des Deutschtums, das zwar als eine fremde, aber zugleich höherstehende Kultur verstanden wurde. Mikelis Šimonis möchte seinem Bruder Krizas beweisen, daß man den Deutschen sehr dankbar sein sollte für ihre Kultur und daß die litauische Sprache mit der Zeit verschwinden werde, weil „alles Deutsch werden muß".18

 

Die Deutschen haben immer wieder den bäuerlichen Charakter der litauischen Sprache betont. Solange die Litauer an dieser unsittlichen Sprache festhielten und alle barbarischen Sitten weiterhin pflegten, könnten sie kein Kulturvolk werden.19


Die Litauer sängen in der Kirche „wie die Ochsen"20 und bei ihren Besuchen in Königsberg ernteten sie unter den Deutschen wegen ihrer litauischen Bekleidung Hohn.21 Offenbar glaubten die Litauer selbst, daß ihre Sprache keine Kultursprache sei. Pikčiurnienė sagt: „Wie weit kannst du mit der litauischen Sprache kommen? Bis Prökuls. Nur bis dort, doch schon dort kannst du dich nicht mehr mit den Herren im Gericht auf Litauisch verständigen".22


Das Deutschtum wurde mit Bildung gleichgesetzt. Grėtė Karalienė überlegt sich, daß die Deutschen vielleicht auch sie eine gnädige Frau nennen würden, wenn sie so gebildet wäre wie die deutsche Pempienė.23


Man mußte Deutsch beherrschen, wenn man Beamter werden wollte, „um sein Brot leichter zu verdienen".24 Mikelis Šimonis, der zu der Hochzeit seines Bruders Kristupas gekommen ist, schämt sich als hoher preußischer Beamte mit litauischen Bauern Litauisch zu sprechen.25 Ilzė Karalikė weiß schon von ihren Eltern, daß „alle Herren Deutsche sind. Das ganze Gericht besteht aus Deutschen ... der Anwalt ist Deutscher, der Schulze Deutscher, der Lehrer Deutscher, der Pastor Deutscher und der Gasthauswirt ebenfalls".26


Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief der Prozeß der Eindeutschung sowohl spontan als auch mit Unterstützung der Regierung.
Unter zeitgenössischen wie auch späteren Forschern wurde über die Bedeutung der Zeitung „Keleivis" (Der Wanderer), die von 1849- 1880 vom Königsberger Professor Friedrich Kurschat (Fridrikas Kuršaitis) herausgegeben wurde, viel diskutiert. Kurschat hielt sich streng an den Auftrag der preußischen Regierung, weshalb der litauische Sprachforscher Jonas Jablonskis meinte, daß „ihm das nationale Erwachen des eigenen Volkes völlig egal war". Anderseits sagt Jablonskis: „Ohne die Arbeit von Kuršaitis wären die Kleinlitauer noch stärker germanisiert".27


I. Simonaitytė schreibt in ihrer Biographie „O buvo taip" (Aber es war so), daß ihre Mutter „und insgesamt die ganze Verwandtschaft überhaupt nicht stolz auf den Professor Kurschat gewesen seien. Sie hätten gewußt, wer er ist - oder war - , doch für sie war er ein Deutscher, und Deutsche hat man nicht als einen der Ihren anerkannt".28


Auf ähnliches Unverständnis stieß auch eine andere gebildete Persönlichkeit dieses Landes, der Pfarrer Vilius Gaigalaitis (Wilhelm Gaigalat), der 15 Jahre lang von 1903-1918 die Wähler von Memel und Heydekrug im Preußischen Landtag vertrat. Er sei „nach Berlin gefahren, um den Kaiser zu sehen, und sei eigentlich kein tauglicher Pfarrer, denn er treibt Politik".29 Eine solche Einstellung kann man nur erklären mit einem politischen und „gegen die Kultur gerichteten" Konservativismus der Kleinlitauer 30, sowie mit ihrer vorsätzlich negativen Einstellung gegen alles, was für sie unerreichbar war, wenn sie ihr Litauertum nicht aufgeben wollten. Der Prozeß der Eindeutschung der Litauer erhielt nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 eine neue Qualität. In den Schulen wurde
„die Geschichte der deutschen Kaiser gelehrt. Man mußte unbedingt alles über die Macht Barbarossas, über die Unbesiegbarkeit des Großen Friedrichs ... von der Friedfertigkeit aller Wilhelme wissen". Doch das wichtigste war „die Beherrschung der deutschen Sprache. Unbedingt".


Wenn man auf Litauisch antwortete, so machte man „Bekanntschaft mit dem Rohrstock".31 Nicht minder wurde das Deutschtum auch beim Militär vermittelt. Als Vilius Karalius vom Militär auf Urlaub kommt, will er fast keinen Menschen „wiedererkennen". „Falls er mit jemanden redete, so nur auf Deutsch oder er fügte überall unbekannte deutsche Worte ein".32
Zur Übernahme des Deutschtums gehörten nicht nur deutsche Wörter, sondern auch eine entsprechende Art, sich zu kleiden und zu benehmen, eben wie es deutsche Städter taten: „Anskis war fast gänzlich deutsch gekleidet. Er trug einen gekauften grauen Anzug, ein gebügeltes buntes Hemd mit einem passenden Kragen sowie mit einer rotgestreiften grauen Krawatte und hellrote Schuhe".33 Auch die jungen Frauen „wurden im Nu zu Deutschen. Sie kauften schon nicht mehr die schweren seidenen Tücher mit noch schwereren seidenen Fransen".34 Allein wegen der Mode fingen die Frauen an, sich in den Städten Haare frisieren zu lassen. Auch als I. Simonaitytė eine Kur in Angerburg machte, ging sie nicht mehr in ihren litauischen Kleidern zur Kirche, da sie ein sehr schönes Kostüm bekam. Zwar flocht sie weiterhin ihre Haare in zwei Zöpfe, jedoch band sie sie nicht mehr zu einem Kranz um den Kopf, wie es die Frauen in Prökuls taten, sondern befestigte sie sie mit Haarspangen am Hinterkopf.35

 

Alle diese Veränderungen standen mit der Kultur in Verbindung, doch auch mit dem Wunsch, den sozialen und wirtschaftlichen Status zu ändern bzw. mit dem Minderwertigkeitskomplex der „bäuerlichen" Herkunft, „denn mit der Krawatte sieht man schon ein wenig nach einem Deutschen aus, zumindest nach einem halben Deutschen. Vielleicht deshalb geniert man sich, seinen Hut vor einem Litauer - einem Menschen ohne eine Krawatte und mit langen Haaren - abzunehmen... Und macht man den Mund auf, um einen Litauer zu grüßen, so will die Zungen einem nicht gehorchen".36


Ende des 19. Jahrhunderts schwand die litauische Sprache im Deutschen Reich immer mehr und die Zahl der Kleinlitauer nahm rapide ab.

1736 hatten die Litauerhöfe in den Kreisen von Insterburg, Ragnit und Tilsit noch 60 % ausgemacht. 1861 betrug der Bevölkerungsanteil der Litauer in den zwölf kleinlitauischen Kreisen nur noch 24,5% und 1890 gar nur 19,1 %.37 1879 wurde in Tilsit auf Initiative deutscher Wissenschaftler die „Deutsch-Litauische Literarische Gesellschaft" gegründet mit dem Ziel, das Erbe „eines sterbenden Volkes" zu erforschen. Gedanken über das Aussterben der Kleinlitauer kommen auch im Werk von Simonaitytė vor.
In Angerburg hörte sie, daß es „nicht einmal fünfzig Jahre währen wird, bis kein einziger Litauer in Deuschland lebt".38 „Das litauische Volk wird sowieso nicht lange existieren" beteuert Pempienė bei der Tauffeier des Sohne von Marė Naujokienė. Ähnlicher Pessimismus befällt alle Kleinlitauer. Der alte Karalius gibt resignierend zu, daß das Ende für die Kleinlitauer sich so oder so nähere, „ ein paar Jahre früher oder später".39


Dennoch beteiligten sich noch Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts viele Kleinlitauer an der litauischen Bewegung. Allerdings kann man nicht behaupten, daß die kleinlitauische Nationalbewegung originell oder einzigartig gewesen sei. Sowohl die Herausgabe eigener periodischer Schriften als auch die Gründung der Vereinigung „Birutė" im Jahre 1885 kamen durch die Vermittlung der Deutschen oder infolge der Kontakte mit Großlitauern zustande, die Ende des 19. Jahrhunderts intensiviert wurden. Die Nationalbewegung in Kleinlitauen beschränkte
sich auf die Erhaltung der Kultur. In den Petitionen der Kleinlitauer, die einmalige Zeitdokumente sind und an die Berliner Regierungsstellen gerichtet waren, findet sich kein Wort über politische Forderungen, 40 weil „die Menschen sich damals sozusagen ausschließlich um die litauische Sprache Sorgen machten".41. Diese weltliche und über die unmittelbare Umgebung hinausgreifende Aktivität der Kleinlitauer wurde vom religiösen Konservativismus eingeschränkt und als Gottlosigkeit eingestuft. Der alte Vilkas meint, daß alle solche Bemühungen „eigentlich lächerlich, völlig unnötig und sinnlos" seien, daß man mit den Petitionen nach Berlin fahre - darunter auch der alte Šalteikis - nicht um die Sprache zu retten, sondern „weil man berühmt werden möchte, weil man die Welt und Berlin sehen wolle, damit die Zeitungen über einen schrieben, damit die Menschen über einen redeten und ihn lobten".42


Ein derart gespaltenes Denken und die fehlende Einigkeit, die besonders im dritten und vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich wurde, standen am Anfang des kulturellen Untergangs der kleinlitauischen Gemeinschaft. Die Risse in der litauischen Identifikation nach der Jahrhundertwende werden sehr plastisch im Roman „Vilius Karalius" beschrieben. Die schmerzhafte Wahrheit, daß „die Litauer sich beeilen, Deutsche zu werden"43 wird hier nicht unterschlagen. Obwohl die Bewohner von Šalteikiai noch entgegensetzen, daß „die Kleinlitauer nicht wollen, daß ihre Kinder Deutsche werden" und meinen, daß sie selbst klüger seien als alle anderen, „fühlte sich Vilius Karalius ...geehrt, wenn er von einem Deutschen mit „Herr Karalius" angesprochen wurde.
Schließlich redeten sich die Litauer untereinander sich nicht mit „Herr" an".44

Auch Pikčiurnienė freut sich über die Anrede „gnädige Frau".45 So prallen in ein und demselben Menschen zwei Kulturen aufeinander, die städtische und die bäuerliche, die eine aggressiv und die andere defensiv.
„Ein solcher Mensch hat es schwer zu erkennen, wer er ist: Deutscher oder Litauer".46


Im Gegensatz zu den Großlitauern hinterließ die Geschichte im Bewußtsein der Kleinlitauer keine Erinnerung an einen eigenen Staat. Die Kleinlitauer hielten die Herrschaft der deutschen Herzöge, Könige und Kaiser für ihre eigene. Sie waren den deutschen Herrschern für den materiellen Wohlstand dankbar: „für das Anlegen der Straßen und Eisenbahnlinien, für das Errichten der Kirchen und Schulen".47 Sie waren überzeugt, daß der Kaiser keinen Krieg wollte, denn er sei ein großer „Friedensfürst. Und wenn ein Krieg käme - wer kann Deutschland besiegen?
Alles andere ist Unsinn".48 Während des Ersten Weltkriegs denkt Raudienė im Roman „Pavasarių audroj" nach, warum Ostpreußen zu Rußland gehören sollte, denn „hatten wir es nicht gut unter Deutschland?"49 

 

Ähnlich denkt auch Pikčiurnienė, als nach dem Anschluß des Memelgebietes an Litauen die Statuen von Wilhelm I. und der Königin Luise in Memel entfernt wurden. Sie war überzeugt, daß Deutschland wieder erwachen und „alle vermöbeln wird".50 Sogar Kūnelienė, die mit ihrer Familie Schweres bei der Flucht 1944 erleidet, hält noch an einer solchen Hoffnung fest: „Wie viele, vertraute auch sie der großen Mission des deutschen Führers und hoffte noch immer auf einen Sieg".51

 
Eine Alternative zur Germanisierung der Kleinlitauer bot die Verbindung mit Großlitauen. Doch nicht nur die unterschiedliche Auffassung vom „eigenen" Staat behinderte eine solche Annäherung. Auch die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung war augenfällig: Vilius Karalius blickt über die Grenze, die Rußland von Deutschland und zugleich Großlitauen von Kleinlitauen trennt, zu einem Anwesen drüben, bestehend aus zwei schiefen Gebäuden, bei dem man nicht unterscheiden kann, welches von ihnen das Wohnhaus ist. Die halbverhungerte Kuh auf der Weide sieht wie ein Kalb aus. Ein vor einem Wagen angeschirrter Schimmel vermag ihn kaum zu ziehen. Im Gegensatz dazu ist das Dorf Šalteikiai auf dieser Seite der Grenze stolz auf seine massiven Hofgebäude, wogenden Getreidefelder sowie gut genährten Pferde und Kühe.52


Doch das größte Hindernis für die Integration der Kleinlitauer waren meiner Meinung nach die konfessionellen Unterschiede. Der von den Kleinlitauern als „Szameit" (žemaitis) und Katholik bezeichnete Großlitauer, den man vor dem Ersten Weltkrieg kaum kannte, weil er hinter der Grenze lebte, trat erst nach 1923 in die Geschichte des Memelgebietes ein. Die Geschichte dieses Gebietes entschieden fortan nicht nur die Konflikte zwischen Kleinlitauern und Deutschen, sondern auch zwischen den autochthonen Memelländern und den großlitauischen Einwanderern.
Im aufgewühlten politischen Strudel dieser Zeit fühlte sich der Kleinlitauer noch mehr als um die Jahrhundertwende hin und her gerissen.

I. Simonaitytė bezeichnete diejenigen Kleinlitauer, die abseits der litauischen Vereine stehen, als „deutsche Kleinlitauer"53, obwohl sie selbst manchmal enttäuscht war über die memelländische Politik der Regierung in Kaunas. So erzwang die litauische Regierung von den Kleinlitauern Jokūbas Stikliorius, Ansas Baltris und sogar von I. Simonaitytė den Rückzug aus dem Verlag „Rytas" und aus der Redaktion der kleinlitauischen Zeitung „Prūsų lietuvių balsas". L Simonaitytė vermerkte bitter, daß der litauische Gouverneur im Memelland „Šaulys, sich nicht nur Mitarbeiter mit dem höheren Schulabschluß, sondern vorrangig Universitätsabsolventen holte"54, was die allermeisten Kleinlitauer nicht vorweisen konnten. Die Zentralregierung in Kaunas bemühte sich nicht um die Mitarbeit der Kleinlitauer und „viele memelländische Angestellte blieben ohne Arbeit und Brot"55. Die Memelländer verstanden unter Bewahrung ihrer Identität das Lavieren zwischen dem Litauertum und dem Deutschtum, wobei sie lieber dem Deutschtum Priorität gaben. Ilzė Pikčiurnienė belehrte ihren Mann: „Man muß den Mantel auf beiden Schultern tragen. Das bedeutet: Du kannst dich gut mit Litauern stellen. Doch vergiß dabei nicht, auch die Beziehungen zu Deutschen und zu ihrer Einheitsfront zu pflegen".56 Und wenn Jokūbas Pikčiurna bei der ersten Wahl zum memelländischen Landtag noch für die „litauischen Großbauern" votierte, so wurde er nach ein paar Jahren zu einem richtigen Deutschen und vertrat im Landtag die deutsche „Einheitsfront".57 

Er freute sich, daß er „noch rechtzeitig geschafft hat, als echter Deutscher hervorzutreten und so zu einem Kämpfer für das Reich und den Führer geworden war. Schließlich haben viele gezweifelt, ob Hitler die Macht in Deutschland bekommt, und haben daher gezögert, sich zu seinen Anhängern zu bekennen". Pikčiurna zweifelte nicht an der Richtigkeit seines Entschlusses, Mitglied bei Neumann (Anführer der memelländischen Nazipartei, Anm. d. Übers.) geworden zu sein: „wenn ich mich nicht dazu entschlossen hätte, säße ich heute nicht im Landtag".58
Der Grund zu einer solchen Einstellung der Memelländer lag nicht nur in ihrer „nationalen Unreife". Sie wurde durch den harten Kampf zwischen Deutschland und Litauen um das Memelgebiet hervorgerufen, wobei „das Verhältnis zwischen der Zentralgewalt und den Autonomisten mit einer Zeitbombe ausgestattet war, deren Uhrzeiger sich unerbittlich der entscheidenden Ziffer näherten".59


Diese Bombe „explodierte" im März 1939, als Hitler kurzerhand das Memelgebiet wieder an das Reich angliederte: „Die Braunen schwärmten wie die Wespen in das Memelgebiet aus und fingen mit ihrer Willkür an".60

Ihr vordringlichstes Ziel war das Verbot der litauischen Sprache. „Nach der Machtübernahme hörten die litauischen Kirchenlieder auf und viele, „die aus Liebe zu ihrer Muttersprache... an ihnen festhielten, gerieten dorthin, von wo es keine Rückkehr mehr gab".61 Und wieder gewann im Bewußtsein der Kleinlitauer der Instinkt des Anpassens und der Gehorsamkeit die Oberhand. Kūnelienė fing an, deutsche Gottesdienste zu besuchen: „Am Anfang verstand sie nicht alles, was der Pfarrer sagte, doch nachher gewöhnte sie sich daran. Schließlich ist Gott überall derselbe und versteht alle Sprachen und man kann in allen Sprachen zu ihm beten...".62


Das Werk von I. Simonaitytė ist folglich eine recht einheitlich gestaltete Chronik Kleinlitauens, in der deutsch-litauische Beziehungen einen bedeutenden Platz einnehmen. Am Anfang stehen die Deutschen und die Litauer noch auf verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Barrikaden. Die Hinwendung zum Deutschtum ist nicht nur im Protestantismus begründet, sondern auch in der unterschiedlichen historischen Entwicklung von Kleinlitauen und Großlitauen, die die Entfaltung einer litauischen Identität bei den Kleinlitauern/Memelländern nicht zuließ.

 

Zu diesem Thema siehe auch:

Buchbesprechung Vilius Karalius

Daten Ieva Simonaityte

Manfred Klein - Kleider machten (litauische) Leute: Ieva Simonaitytės Liebe zum textilen Detail          in den Annaberger Annalen

Fußnoten:

1 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. Vilnius 1984. 262 S.
2 I. Simonaitytė: Paskutinė Kūnelio kelionė. Vilnius 1971. 272 S.
3 Dieser noch in der Unabhängigkeitszeit erschienene Roman war nach „Altorių šešely" (Im Schatten der Altäre) von Vincas Mykolaitis-Putinas der zweite Roman, der „in der litauischen Gesellschaft ein so großes Interesse weckte, von vielen gelesen wurde, in mehreren Auflagen erschien... und den literarischen Puls der Zeit belebte...". ( Simonaitytė, Ieva. In: Lietuvių enciklopedija. Boston 1962. Bd.27. S.467-469).
4 I. Simonaitytė: Raštai. Bd.3: Vilius Karalius. Vilnius 1987. 650 S.
5 I. Simonaitytė: Raštai. Bd.2: Pavasarių audroj; Be tėvo; Pikčiurnienė. Vilnius 1987. 599 S.

6 Vytautas Žalys: Ringen um Identität. Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg hatte. - Kova dėl identiteto. (dt.-lit.). Lüneburg 1993. S.8.

7 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. S.19.
8 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.l11.
9 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. S. 189.
10 I. Simonaitytė:... O buvo taip. Vilnius 1960. S.265.
11 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.23.
12 I. Simonaitytė: Aukstujų Šimonių likimas. S.31.

13 Vytautas Kubilius: Ievos Simonaitytės kūryba (Das Werk von I. Simonaitytė). Vilnius 1987. S.45.
14 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. S. 104.
15 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.50.
16 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. S. 104.
17 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.l11.
18 I. Simonaitytė: Aukštųjų Šimonių likimas. S. 105.

19 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.285.
20 I. Simonaitytė: Pikčiurnienė. S.375.
21 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. S. 136.
22 I. Simonaitytė: Pikčiurnienė. S.408.
23 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.262.
24 I. Simonaitytė: Aukštujų Šimonių likimas. S.85. 25 ebenda. S. 198.
26 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.398.
27 Jonas Jablonskis: Raštai. T.1.: Visuomenės straipsniai. Kaunas. 1933. S.138.

28 I. Simonaitytė: „... O buvo taip". S. 152.
29 ebenda. S.41. '
30 Vytautas Kavolis: Žmogus istorijoje (Der Mensch in der Geschichte). Vilnius. 1994. S.419.
31 I. Simonaitytė: Pikčiurnienė. S.408.
32 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S. 137.


33 ebenda. S.249
34 I. Simonaitytė: Pavasariu audroj. S.20.
35 I. Simonaitytė: Ne ta pastogė (Nicht diese Heimat). Vilnius 1962. S.156.
36 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.250-251.
37 Kęstutis Gudas: Mažosios Lietuvos lietuvių tautinė padėtis XIX a. pabaigoje (Die nationale Lage der Kleinlitauer Ende des 19. Jahrhunderts). Vilnius 1992, S.5.

38 I. Simonaitytė: Ne ta pastogė. S.32.
39 ebenda. S.65
40 V. Žalys: Ringen um Identität... S.14.
41 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.29.
42 ebenda.

43 ebenda. S.284.
44 ebenda. S.283.
45 I. Simonaitytė: Pikčiurnienė. S.386.
46 V. Kubilius: Ievos Simonaitytės kūryba. S.24.
47 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.61.
48 I. Simonaitytė: ... o buvo taip. S.77.
49 I. Simonaitytė: Pavasarių audroj. S.55.
50 I. Simonaitytė: Pikčiurnienė. S.495.
51 I. Simonaitytė Paskutinė Kūnelio kelionė. S.169.


52 I. Simonaitytė: Vilius Karalius. S.41
53 I. Simonaitytė: Ne ta pastogė. S.375
54 1. Simonaitytė: Ne ta pastogė. S.375


55 I. Simonaitytė: Nebaigta knyga. S.131.
56 I. Simonaitytė: Pikčiurnienė. S.539.
57 ebenda. S.553.
58 ebenda. S.566.
59 V. Žalys: Ringen um Identität... S.36.
60 I. Simonaitytė: Raštai. T.6. Apsakymai. Vilnius 1958. S.155.

61 I. Simonaitytė: Paskutinė Kūnelio kelionė. S.79.
62 ebenda. S.80.