Das Wilna-Problem in der polnischen Außenpolitik

 

"Unerschütterlicher Grundsatz war, daß keine litauische Regierung, die auf Wilna verzichtete, länger als einen Tag an der Macht bleiben würde. "

 

Für die meisten Menschen, hier sind die Litauer (selbst die Bürger von Vilnius) nicht ausgenommen, ist der umstrittene Status von Vilnius (oder Wilna) unbekannt. Doch wurde um Vilnius noch vor 90 Jahren gekämpft. Beharrten Polen und Litauer darauf, dass Vilnius zu ihrem Staatsgebiet gehört. Für die heute lebenden Litauer ist Vilnius als litauische Hauptstadt genauso selbstverständlich wie Klaipeda schon immer zu Litauen gehörte.

 

Die Geschichte ist im Falle Vilnius aber verzwickt. Hatten sich die Staaten Litauen und Polen doch seit 1386 durch eine Personalunion so eng aneinander gebunden, dass die stärkere polnische Kultur das kleinere Litauen überflutete. Die litauische Hauptstadt Vilnius wurde eine internationale Stadt (wie Tomas Venclova treffend beschreibt, und dadurch von litauischen Nationalisten angefeindet wird). So kam es, dass 1916 in Vilnius nur noch 2,1 % Litauer wohnten. Aber 54 % Polen und 41 % Juden. Vilnius war eine multikulturelle Stadt, es wurde Jerusalem des Ostens genannt. Dieser Charme ist auch heute noch zu spüren, wenn man durch die Altstadt spaziert.

Viele berühmte Polen stammen aus dem Vilniuser Gebiet. Auch der ehemalige polnische Präsident Josef Pilsudski ist in Vilnius geboren, sein Herz in Vilnius begraben. Pilsudski war die treibende Kraft nach den Wirren des I. Weltkrieges Vilnius wieder in das polnische Staatsgebiet zu integrieren. Russland, Litauen und Polen waren an der Stadt interessiert. Ein tiefes Verständnis für die Geschichte von Vilnius (aber auch Litauens und Polens) vermittelt dieser interessante Artikel von Piotr Lossowski. (So war der zwielichte Kazys Skirpa während der schwierigen Nachkriegsjahre Gesandter in Warschau).                                                                                                                                                                                     

Professor Lossowski, geb. 1925, ist ein polnischer Historiker, Mitarbeiter der Polnischen Lehrakademie und der privaten Hochschule Collegium Civitas in Warschau. Lossowski spricht litauisch und hat sich auf die litauisch-polnische Zwischenkriegszeit, die polnische Außenpolitik der II. Polnischen Republik und die Baltische Geschichte spezialisiert.

Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Prof. Lossowski. Hervorhebungen durch Andreas Kuck.

 

 

Das Wilna-Problem in der polnischen Außenpolitik

1918-1939

von Piotr Lossowski

 

Die Bedeutung des Wilna-Problems in der Außenpolitik der zweiten polnischen Republik trat deutlich vor dem Hintergrund des polnisch-litauischen Konflikts hervor. In dieser Frage hatte die polnische Diplomatie Ganzheit und Integrität des Staates gegen Territorialansprüche eines Nachbarn zu verteidigen. Da die Standpunkte beider Seiten, Polens und Litauens, sich wechselseitig ausschlossen, zog sich die Auseinandersetzung über Jahre hin und nahm an Schärfe zu. Sie bildete einen gefährlichen Brandherd im östlichen Mitteleuropa, weckte die Aufmerksamkeit der Politiker, Diplomaten und Publizisten und zog später das Interesse der Forscher auf sich. Gewiß erschöpfte sich die Gesamtheit jener Schwierigkeiten, die mit dem polnisch-litauischen Konflikt zusammenhingen, nicht in der Wilna-Frage. Sie war aber unlösbar in den Zusammenhang eingebunden und stellte eines seiner Hauptprobleme dar.

Die polnische Haltung gegenüber Litauen wurde bereits in einer Äußerung Jozef Pilsudskis vom 18. Dezember 1918 deutlich. An eine Delegation von Litauern gewendet, sagte er, dass er nichts dagegen habe, wenn ein unabhängiger litauischer Staat entstehe. Er forderte allerdings, daß die Litauer ihre Ansprüche auf das ethnographische Litauen beschränkten, weil zum historischen Litauen unzweifelhaft polnische Gebiete gehörten. Mit anderen Worten: Er gab zu verstehen, dass nur ein föderativ mit Polen verbundenes Litauen auf den Besitz Wilnas zählen könne. Andernfalls werde es sich auf rein ethnographische Territorien beschränken müssen.

Pilsudskis Haltung war insoweit begründet, als sogar die in den Jahren 1916/17 von den Deutschen durchgeführte Volkszählung für die Stadt Wilna 54% Polen, 41% Juden und nur 2,1% Litauer nachwies. Das betraf auch die nächste Umgebung der Stadt. Der Volkszählung nach gab es im Wilnaer Kreis mit 63.000 Einwohnern 56.000 Polen und 2.700 Litauer.

Die unterschiedliche Haltung Polens und Litauens zeigte sich in vollem Umfang schon bei der Pariser Friedenskonferenz. Am 28. Februar 1919 überreichte der polnische Vertreter Roman Dmowski dem Forum eine Note, die die Eingliederung des gesamten litauischen Staates in den polnischen Staat forderte. In einem Schreiben an die Friedenskonferenz vom 3. März erklärte Dmowski: „Das Gebiet mit litauischer Sprache sollte als ein gesondertes Land in die Grenzen des polnischen Staates eingegliedert werden.“

So weit ging Pilsudskį nicht. Konsequent hielt er sich an seine im Dezember 1918 festgelegte Haltung. Vor dem Beginn der Offensive gegen Wilna, im April 1919, schickte er eine Delegation nach Kaunas, die der litauischen Regierung die Erneuerung der Union und eine Wiederherstellung des ehemaligen Großfürstentums Litauen offiziell anbot. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Trotzdem ließ Pilsudskį nach der Befreiung Wilnas aus der Hand der Bolschewiki einen Aufruf „An die Bevölkerung des ehemaligen Großfürstentums Litauen“ verbreiten, in dem er zusagte, dass die Bewohner über ihre Zukunft selbst entscheiden sollten. Ihre in demokratischen Wahlen berufenen Vertreter würden über die Lösung innerer, nationaler und religiöser Angelegenheiten entscheiden. Nach der Eroberung Wilnas stoppte er den Vormarsch des polnischen Heeres nach Westen, so dass das ethnographische Litauen nicht besetzt wurde. Zwischen dem polnischen und litauischen Heer wurde eine Demarkationslinie festgelegt.

Als Roman Dmowski, der Führer der polnischen Nationaldemokraten, von der Einnahme ganz Litauens sprach, bestanden auch von Seiten Litauens sehr weit reichende territoriale Ansprüche. Am 24. März 1919 trat in Paris Augustinas Voldemaras mit einer Note an den Vorsitzenden der Friedenskonferenz heran, die Ansprüche auf die Rückforderung verschiedener Gebiete enthielt. Die Note umfasste folgende Gouvernements: Wilna, Kowno, Grodno und Suwalki sowie einen Teil Kurlands und Ostpreußens. Insgesamt forderte Litauen ein Gebiet von etwa 125.000 km2, mit einer Bevölkerungszahl von 6 Millionen. Auf diesem Territorium waren kaum ein Drittel der Bewohner Litauer.

Aufgrund der großen Unstimmigkeiten ist es nicht verwunderlich, dass die mehrmals aufgenommenen Verhandlungen erfolglos blieben. Am Ende beschränkte sich die litauische Haltung auf die entschlossene Forderung, Wilna einzugliedern, bei der gleichzeitigen Weigerung, wieder Beziehungen zu Polen aufzunehmen. Abgesehen von der extremen Haltung Dmowskis reduzierte sich die Position der polnischen Regierung auf eine Anerkennung des eingetretenen Status quo durch die Litauer. Die Abtretung Wilnas wurde von dem Einverständnis für eine Föderation abhängig gemacht. Die polnische Seite war insoweit in einer besseren Situation, als die Stadt selbst in ihrer Hand war.

Aber schon im nächsten Jahr änderte sich die Situation vollständig. Infolge der Offensive der sowjetischen Armee im Juli 1920 wurden die polnischen Truppen zum Rückzug gezwungen. Litauen schloss jetzt einen Friedensvertrag mit Russland, in dem vereinbart wurde, daß die sowjetische Seite Litauen nicht nur Wilna abgab, sondern auch Braclaw, Lida und Grodno, also Gebiete, in denen fast keine litauische Bevölkerung lebte. Der scheinbaren Großzügigkeit der sowjetischen Regierung lagen zwei Motive zugrunde: Russland wollte Litauen auf seiner Seite in den Krieg einbeziehen und war überzeugt, im Falle eines Sieges Litauen sowieso in die Hand zu bekommen. Letztlich verletzte Litauen seine neutrale Haltung im laufenden Krieg, was sich am deutlichsten im aktiven Eingreifen litauischer Truppen gegen die sich aus der Wilnaer Region zurückziehende polnische Armee zeigte. Die sowjetischen Machthaber gaben den Litauern Wilna jedoch nicht sofort zurück. Die Übergabe der Stadt erfolgte erst am 26. August 1920 — zu einer Zeit, als die geschlagene sowjetische Armee sich schon von Warschau zurückzog.

Die polnische Regierung erkannte den litauisch-sowjetischen Vertrag nicht an, musste sich jedoch im belgischen Spa, da sie von den Westmächten Hilfe im Krieg gegen die Bolschewisten suchte, den Alliierten gegenüber zur Bereitschaft verpflichten, „die Entscheidung des Höchsten Rates über die litauischen Grenzen zu akzeptieren“. Diese Verpflichtung wirkte sich auf das weitere Verhalten der Regierung in der Wilna-Frage aus. Als nach der gewonnenen Schlacht an der Memel die polnische Armee das Operationsfeld der litauisch-weißrussischen Gebiete betrat, stellte sich für Marschall Pilsudskį die Frage nach dem Wie der Rückgewinnung Wilnas — nur nach dem Wie, denn der Sachverhalt an sich ließ keinen Zweifel. Jozef Pilsudskį war von der Notwendigkeit einer Rückeroberung Wilnas überzeugt, da die Stadt seinerzeit durch die Kriegsgeschehnisse unter Zwang verlassen werden musste und darüber hinaus Litauen die Zusage seiner Neutralität im polnisch-sowjetischen Krieg nicht eingehalten hatte.

Eine Schwierigkeit bildeten jedoch die in Spa eingegangenen Verpflichtungen. In dieser Situation beschloss Pilsudskį, sich einer Täuschung zu bedienen und gegenüber den Westmächten eine angebliche Meuterei jener Teile der polnischen Armee, deren Soldaten aus litauischen Gebieten stammten, vorzuschieben. Eine solche Aktion wurde unter der Leitung des Generals Lucjan Zeligowski vorbereitet und führte am 9. Oktober 1920 zur Besetzung Wilnas. Auf dem besetzten Territorium gründete General Zeligowski einen Quasi-Staat mit dem Namen Mittellitauen. Politisch versuchte sich Polen der Verantwortung für die Wilna-Aktion Zeligowskis zu entziehen, gab aber gleichzeitig zu verstehen, dass der General durch die polnische Regierung gedeckt sei. Mit dem darin liegenden Widerspruch kam man kaum zurecht.

In Pilsudskis Konzept war Mittellitauen als Trumpfkarte für die Verhandlungen mit Litauen gedacht. In Polen hoffte man, die Litauer würden für das Angebot, Wilna zurückzugeben, der Föderation bzw. einer anderen Verständigungs- oder Kompromissform zustimmen. Man begegnete aber, ähnlich wie früher, einer unnachgiebigen Haltung. Es kam lediglich am 29. November zu einem Waffenstillstand. Die späteren Gespräche, die zuerst nur zwischen den beiden Staaten, dann unter Vermittlung des Völkerbundes geführt wurden, endeten ebenfalls erfolglos. Unter diesen Umständen reifte auf polnischer Seite der Entschluss, die Frage der Zukunft Wilnas einseitig und ohne Rücksicht auf Litauen zu lösen. Es wurde beschlossen, Wahlen zum Wilnaer Sejm, der über die Zukunft der Region entscheiden sollte, in Mittellitauen durchzuführen. Die polnische Seite bemühte sich, die Wahlen möglichst frei und ohne Druck abzuhalten. General Zeligowski verließ aus diesem Grund mit seinem Heer das der Abstimmung unterliegende Gebiet. Mit der Durchführung der Wahlen beauftragte Polen eine Gruppe bewährter Personen mit dem Generalkommissar Zygmunt Zabierzowski an der Spitze. Alle Nationalitätengruppen bekamen die Möglichkeit, ihre Kandidaten vorzuschlagen. Manche litauischen Funktionäre jedoch riefen zu einem Wahlboykott auf. Sie bemühten sich, auch andere nationale Minderheiten zur Verweigerung der Stimmabgabe zu veranlassen. Da die Teilnahme an den Wahlen freiwillig war, befolgte ein Teil der Minderheiten den litauischen Aufruf.

Die litauischsprachige Bevölkerung nahm nur in geringem Umfang an den Wahlen teil (8,2% aller Wahlberechtigten). Nicht groß war ebenfalls die Beteiligung der Juden (15,3%). Dagegen gingen 41% der Weißrussen sowie 66% der Karaimer und Tataren zu den Urnen. Die Wahlbeteiligung der polnischen Bevölkerung, die die Mehrheit bildete, war desgleichen sehr stark. Im Endergebnis zeigte sich, daß 64,4% aller Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht hatten. Die Wahlbeteiligung war damit insgesamt sehr groß. Der neu gebildete Wilnaer Sejm sprach sich am 20. Februar 1922 für die Eingliederung Wilnas und des umliegenden Gebietes nach Polen aus. Dieser Entscheidung stimmte der polnische gesetzgebende Sejm in Warschau am 24. März des Jahres zu. Die litauische Regierung dagegen verlieh ihrem Protest energisch Ausdruck, indem sie die Wahlen und die Entscheidungen des Wilnaer Sejm nicht anerkannte.

Daher bemühte sich die polnische Seite in der Wilna-Frage um internationale Sanktionen, um den Status quo sowie die geschaffenen und vollendeten Tatsachen beibehalten zu können. Litauen gegenüber bemühte man sich um Verständigung und Herstellung regulärer diplomatischer Beziehungen, jedoch unter der Bedingung, dass es den derzeitigen Zustand anerkennen sollte. In einem Schreiben an den Ratsvorsitzenden des Völkerbundes, Paul Hymans, stellte der polnische Außenminister Konstanty Skirmunt am 23. Januar 1922 fest: „Conformemant aux désires du Conseil le Gouvernement Polonais ne manquera pas de renouveler au Gouvernement Lithuanien la proposition d’établir immédiatement entre les deux Gouvernements des relations diplomatiques et consulaires, qui ne peuvent que contribué désormais de la façon la plus effective à consolider les rapports pacifiques de bon voisinage si justement recommandés aux deux Gouvernements par le Conseil.“

Ähnliche politische Schritte wurden auch direkt an Litauen gerichtet. Dabei hielt man sich an folgende Regel: „Unsererseits nehmen wir, zumindest vorläufig, die Frage Wilnas aus dem Bereich der polnisch-litauischen Beziehungen heraus und streben nach einer Verständigung mit Litauen auf der Grundlage der gemeinsamen Interessen zweier benachbarter Staaten. Zur Zeit bestehen keine Chancen für eine solche Verständigung. Da wir jedoch immer energischer unsere Bereitschaft dazu hervorheben, schaffen wir eine für uns bequemere Situation, um in der Frage Wilnas zu gewinnen.“

In der oben dargestellten Haltung zeigten sich im Vergleich zu der vorherigen Zeit neue Faktoren. Die Hoffnung auf Gründung einer Föderation mit Litauen wurde immer weiter hinausgeschoben, in den Vordergrund trat jetzt die Frage nach einer Regelung der gegenseitigen staatlichen Beziehungen, dies aber auf der Grundlage des nun geschaffenen Status quo. Sehr deutlich wurde das in einem 1922 vom polnischen Außenministerium verfassten Memorandum unter dem Titel „Das Programm der polnischen Politik gegenüber dem gegenwärtigen litauischen Staat". In der Ausarbeitung mit Weisungscharakter war unter anderem zu lesen: „Man soll jede Anstrengung unternehmen, um zu Litauen diplomatische Beziehungen herzustellen. Die ,de jure' Anerkennung Litauens ist der Preis, der gezahlt werden muß, um konsularische Beziehungen herstellen zu können.“ Weiter wurde festgestellt: „Es könnten zur Zeit folgende reale Vorschläge an die litauische Hauptstadt Kaunas gerichtet werden:

  1. De jure Anerkennung Litauens als Gegenleistung zur Herstellung der diplomatischen Beziehungen (mindestens Konsulate),
  2. gegenseitige Förderung des privaten Handels zwischen Polen und Litauen.“

Zum Konflikt um Wilna heißt es eindeutig: „Das Thema Wilna ist nicht nur aus den Verhandlungen mit Litauen herauszuhalten, sondern es soll auch weder daran erinnert noch durch Repressalien gegen Litauer in diesem Gebiet Salz in die Wunden gestreut werden.“ Dieser Haltung lag das Bestreben nach einer möglichst schnellen rechtmäßigen Anerkennung des politischen Status quo zugrunde. Das anzustrebende Ziel fasste Stanislaw Baczynski 1938 in internen Ausarbeitungen des Außenministeriums folgendermaßen zusammen: „Litauen hatte im politischen Spiel dem Völkerbund gegenüber alles zu gewinnen, Polen konnte nur verlieren, da es das ganze zurück gewonnene Land unter seiner Macht beließ. Der einzige Gewinn und damit das Ziel der polnischen Politik war unter diesen Bedingungen eine Veränderung der Lage aus einer Situation du fait in eine du droit.“ Diesem Punkt waren die gesamten Bemühungen der polnischen Seite untergeordnet.“

Wegen des entschlossenen Widerstandes der litauischen Seite war die Aufgabe nicht leicht zu bewältigen. Dennoch wurde an beruhigenden Erklärungen Litauen gegenüber nicht gespart. Minister Skirmunt erklärte am 22. Mai 1922 in der Sitzung des Sejm: „Als Antwort auf unbegründete Drohungen des Delegierten Litauens sage ich, dass Polen — gemäß der vor dem Rat des Völkerbundes eingenommenen Verpflichtung — Litauen nicht überfallen wird. Wir sind immer bereit, mit der litauischen Regierung direkte Verhandlungen aufzunehmen, um die Beziehungen im Sinne einer guten Nachbarschaft zu regeln.“

 

Der Nachfolger Skirmunts, Gabriel Narutowicz, nahm eine ähnliche Haltung ein. Er legte vor allen Dingen Wert darauf, daß die polnische Regierung angesichts der Entscheidung des Wilnaer Sejm der Meinung sei, die Frage der Zugehörigkeit Wilnas zu Polen bereits endgültig geklärt zu haben. „Die Frage Wilnas“, sagte er in einem Presseinterview am 25. Juli 1922, „sollte nicht Gegenstand von Tagungen auf internationaler Ebene sein. Das Schicksal der Region Wilna ist durch den Volkswillen definitiv besiegelt.“

Die Haltung der litauischen Seite war ähnlich entschlossen und unversöhnlich. Polnische Vorschläge, Verbindung zueinander aufzunehmen, und das Lockmittel einer rechtsverbindlichen Anerkennung Litauens machten in Kaunas keinen Eindruck. Unerschütterlicher Grundsatz war, daß keine litauische Regierung, die auf Wilna verzichtete, länger als einen Tag an der Macht bleiben würde.

Die Politik der litauischen Machthaber stand im Gegensatz zum Verhalten der polnischen Seite. Je lauter in Warschau erklärt wurde, die Wilna- Frage sei kein internationales Problem, desto stärker bemühte man sich in Kaunas, bei jeder Gelegenheit öffentlich an das Thema zu erinnern und hervorzuheben, dass die Frage weiterhin offen und ungeklärt sei.

Wenn man tiefer in die Problematik eindringt, erweist es sich, daß für die litauischen Politiker die Situation eines andauernden Konflikts mit Polen sogar gewisse Vorteile bot. Dies wird in vielen Quellen bestätigt, unter anderem in den Worten von Aleksandras Merkelis, dem Sekretär des Präsidenten Smetona, der nach Jahren schrieb: „Aus der Tatsache, daß Litauen mit Polen keine Beziehungen unterhielt, hatte es mehr Nutzen als Schaden. Bevor eine Generation mit einem starken Nationalbewusstsein aufwuchs, wurde die polnische Überflutung gestoppt. Diplomatische Beziehungen hätten der Wirtschaft Litauens wenig genutzt. An das Fehlen bilateraler Beziehungen mit Polen hatte man sich schon so gewöhnt, daß es eigentlich selbstverständlich und natürlich zu sein schien und anders nicht vorstellbar war.“

Weil es unmöglich war, sich mit der litauischen Seite zu verständigen, blieb der polnischen Regierung nur übrig, unter Vermittlung dritter Staaten zu handeln. Das war nötig, um die Einwilligung und Sanktionierung der Westmächte für die Eingliederung Wilnas in polnisches Staatsgebiet zu erhalten. Dabei handelte es sich um eine wichtige außenpolitische Aufgabe, um die sich die polnischen Diplomaten besonders seit Ende 1922 bemühten. Zu Beginn des Jahres 1923 beschloss Warschau, die willkürliche litauische Besetzung von Memel auszunutzen, um die Zustimmung zur endgültigen Einvernahme Wilnas zu erreichen. Unmittelbar nach dem litauischen Überfall wurde vor der Konferenz der Botschafter ein Protest gegen die Verletzung der Rechte Polens auf Nutzung eines freien Hafens in Memel überreicht und die juristisch verbindliche Anerkennung der polnisch-litauischen Grenze gefordert.

In London gab man zu verstehen, daß Großbritannien bereit sei, für die Anerkennung der östlichen Grenzen des polnischen Staates zu sorgen. Eine große Rolle spielte ebenfalls die Initiative der italienischen Regierung, die am 30. Januar 1923 vorschlug, daß die Botschafter-Konferenz die Memel-Frage nach der der polnischen Ostgrenzen untersuchen und diese endgültig klären solle. Der polnischen Diplomatie gelang es unterdessen (3. Februar) jedoch, die Einwilligung des Völkerbundes zu erhalten, den zwischen Polen und Litauen noch bestehenden neutralen Streifen zu teilen. Ein solcher Schritt wäre gleichbedeutend mit einer Anerkennung der Grenzen zwischen beiden Ländern gewesen.

Die polnische Regierung beschloß, andere Länder weiterhin unter Druck zu setzen, um die Angelegenheit endgültig zu klären. Der Sejm betonte am 12. Februar 1923 in einem Beschluß, die Anerkennung der polnischen Ostgrenzen sei eine politische Notwendigkeit und zugleich Bedingung für den Frieden insgesamt. Die polnische Regierung ihrerseits wandte sich am 15. Februar an die Botschafterkonferenz und verlangte offiziell, den Artikel 87 des Versailler Vertrags anzuwenden, in dem stand: „Polnische Grenzen, die in diesem Vertrag nicht festgelegt wurden, werden später durch die verbündeten und vereinigten Hauptmächte festgelegt.“

Die polnischen Bemühungen endeten erfolgreich. Am 14. März 1923 fiel die Entscheidung der Botschafterkonferenz, und am 15. März erfolgte die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum Versailler Vertrag. Darin wurde die Grenze Polens zu Rußland und Litauen bestätigt. Das war ein großer Erfolg der polnischen Diplomatie; der polnisch-litauische Konflikt um Wilna verlor damit an internationalem Interesse. Zugleich entstand eine neue Situation im Bereich der polnisch-litauischen Beziehungen.

Die litauische Regierung war sich der Lage bewußt. Dennoch versuchte sie zu protestieren und die Diskussion über die Wilna-Frage auf die Ebene des Völkerbundes zu bringen. Das Sekretariat des Völkerbundes stellte in einer Erklärung vom 27. März aber eindeutig fest, daß der Entschluß der Botschafterkonferenz „dem System der am 8. Oktober 1920 begonnenen provisorischen Abgrenzungen ein Ende bereitet“. Von diesem Zeitpunkt ab seien Verhandlungen seitens des Völkerbundes nicht mehr erforderlich. Angesichts des weiteren Drucks erklärte am 21. April der Vertreter des Völkerbundes, Paul Hymans, dem litauischen Delegierten, daß der Bund seine Aufgabe, den Frieden zu bewahren, erfüllt habe. Seine Intervention habe einen Krieg zwischen Polen und Litauen verhindert. Jetzt werde die politische Grenze gemäß dem von der litauischen Regierung anerkannten Versailler Vertrag gezogen.

Während die litauische Diplomatie auch weiterhin nicht resignierte und gegen den Beschluss vom 15. März 1923 vorzugehen suchte, bereitete die Botschafterkonferenz weiteren Diskussionen ein Ende. In einer Note an die Regierung Litauens vom 3. Dezember 1923 hielt die Konferenz fest, dass die Frage der polnisch-litauischen Grenze „abgeschlossen“ sei, und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, daß Litauen „im eigenen Interesse“ friedliche Beziehungen zu Polen herstelle.

Obwohl die litauische Regierung auf dem internationalen Parkett erfolglos geblieben war, setzte sie mit Entschlossenheit ihre Politik fort. Hartnäckig wiederholte sie, daß es nach der Besetzung Memels die nächste Aufgabe sei, die Wegnahme Wilnas rückgängig zu machen. Ähnliche Worte wurden vor allem im internen Gebrauch verwendet. Man betonte immer wieder, dass eine litauische Regierung, die eine „Verständigung mit Polen suche“, ohne Wilna zurückzufordern, die Macht nicht lange innehaben könne. Zur Betonung des unbeugsamen Willens, um Wilna zu kämpfen, und zur gleichzeitigen Mobilisierung der Gesellschaft wurde im April 1925 ein Verein zur Befreiung Wilnas gegründet. Der Verein wuchs schnell und zählte bereits Ende 1931 288 Ortsgruppen mit zusammen 15.000 Mitgliedern. Im Statut stand, dass „das Ziel des Vereins die Befreiung des besetzten Ostlitauens“ sei.

In Polen beobachtete man aufmerksam das Vorgehen Litauens. Man versuchte, die Argumente der litauischen Propaganda in Bezug auf Wilna zu entkräften und zu widerlegen. So wurde z.B. in einem in den europäischen Hauptstädten verbreiteten Memorandum im November 1924 formuliert: „Vilno ne constitue point un élément pouvant décider de l’existence de l’Etat lithuanien indépendant; bien au contraire, l’opinion lithuanienne atteste à l’unanimité que du moment, où Vilno aurait été réuni à la Lithuanie, la situation économique actuelle si désastreuse de l’Etat s’en trouverait aggravée (...)“

Immer wieder gab es seitens der litauischen Diplomatie Versuche, die Wilna-Frage in das Forum des Völkerbundes einzubringen. Als 1924 die litauische Delegation auf die Tagesordnung der 5. Sitzung der Vollversammlung des Völkerbundes die Wilna-Frage setzen wollte, versuchte die polnische Diplomatie alles, um dies nicht zuzulassen. Sie wurde dabei von der französischen und japanischen Delegation unterstützt.

Andererseits unternahm man viel, um Litauen zu einer Regelung der Beziehungen zu Polen zu bewegen, wobei man jede erdenkliche Gelegenheit nutzte. 1924 bot sich die Ratifikation der Memel-Konvention durch Litauen an. Einer der Punkte der Konvention enthielt die Verpflichtung Litauens, den freien Verkehr auf der Memel zu sichern. Die polnische Seite nahm diesen Passus als Ausgangspunkt, und es kam mit Unterstützung der westlichen Mächte im August 1925 in Den Haag zu offiziellen polnisch-litauischen Gesprächen.

Die Einstellungen und Ziele beider Seiten waren von Anfang an völlig gegensätzlich. Die polnische Delegation strebte eine vollständige Regelung der Beziehung an, die litauische Delegation dagegen bekam von ihrer Regierung die Anweisung, sich nur mit technischen Problemen des Transits und der Flußfahrt auf der Memel zu befassen. Im Endeffekt wurde nicht einmal eine konsularische Betreuung der Flößer vereinbart. Die Gespräche in Den Haag endeten erfolglos. Allein der Hartnäckigkeit der polnischen Delegation war es zu verdanken, daß nach einigen Wochen die Verhandlungen in Lugano wieder aufgenommen wurden. Da die litauische Delegation die Anweisung hatte, sich „in weiteren Verhandlungen nicht zu engagieren“, endeten auch die Gespräche in Lugano ohne Erfolg. Eine große Rolle spielte dabei der organisierte Druck der litauischen öffentlichen Meinung, der sogar eine Regierungskrise herbeiführte.

Weder in Den Haag noch in Lugano ließ die polnische Seite zu, daß die Wilna-Frage angesprochen wurde. Trotzdem existierte das Problem und tauchte bei jeder Gelegenheit auf. Beispielsweise legte Anfang des Jahres 1926, als sich die polnische Diplomatie um einen nicht ständigen Sitz im Rat des Völkerbundes bemühte, Mečislovas Reinys, der Außenminister Litauens, dem Rat des Völkerbundes eine Note vor (12. März), in der er gegen die Erteilung des Sitzes an Polen protestierte und gleichzeitig daran erinnerte, daß die Wilna-Frage für Litauen „offen“ bliebe.

Die neu gewählte Mitte-Links-Regierung Litauens brach aus der Solidargemeinschaft der Ostsee-Anliegerstaaten aus und schloss am 28. August 1926 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion ab. Der litauischen Diplomatie gelang es dadurch, die indirekte Unterstützung der sowjetischen Seite in der Wilna-Frage zu gewinnen, denn alle Beschlüsse des litauisch-sowjetischen Friedensvertrags von 1920 sollten in Kraft bleiben. Weiterhin erklärte die sowjetische Regierung in einem Zusatzprotokoll, daß „die faktische Verletzung der litauischen Grenze gegen den Willen des litauischen Volkes das im Vertrag vom 12. Juli 1920 festgelegte Verhältnis zur territorialen Souveränität nicht erschüttert“.

In Warschau betrachtete man das als einen die Rigaer Beschlüsse verletzenden Akt der Sowjetunion gegen Polen. Der stellvertretende Außenminister Roman Knoll protestierte scharf gegenüber dem sowjetischen Botschafter, indem er betonte, dass „in Polen keine Wilna-Frage bestehe und Wilna samt Grodno polnisch sei".

Am 17. Dezember 1926 erfolgte in Litauen ein politischer Umschwung. Die diktatorische Macht ging in die Hände der nationalen Partei unter Antanas Smetona und Augustinas Voldemaras über. Ministerpräsident Voldemaras erklärte schon bald, dass „ohne Rückgabe Wilnas keine Rede von einer Versöhnung Polens und Litauens sein“ könne. „Wilna ist für Litauen nicht nur eine politische, sondern auch eine Ehrenfrage. Ein Übereinkommen zwischen Polen und Litauen kann ausschließlich Wilna betreffen.“ Das konnte nur eine Verhärtung der bisherigen Haltung bedeuten.

In Litauen nahm die Verfolgung der polnischen Minderheit drastisch zu; Ministerpräsident Voldemaras betonte bei jeder Gelegenheit, Litauen befinde sich im Krieg mit Polen. Ende 1927 waren so die polnisch-litauischen Beziehungen in eine tiefe Krise geraten. Marschall Pilsudskį sagte am 29. November 1927 vor der Presse: „Der Kriegszustand, den Litauen uns gegenüber aufrecht erhält, ist zur Zeit einmalig in der Welt; er ist in dieser Region der Erde anormal und krankhaft. Unsere Grenzen zu Litauen sind aus diesem Grund keinen anderen Grenzen in dieser Welt ähnlich. Sie sind Gegenstand andauernder Furcht und Unruhe, da hier keine Arbeit ungestört gemacht werden kann."

Da er die Lage nicht länger hinnehmen konnte, beschloß Pilsudskį, die Angelegenheit auf die Spitze zu treiben. Er begab sich nach Genf, um dort in der Sitzung des Völkerbundrates am 10. Dezember 1927 „eine eindeutige Erklärung von Voldemaras zu erhalten, dass zwischen Litauen und Polen Frieden herrscht“. Nach einer kurzen Diskussion, in der Voldemaras eine eindeutige Antwort vermied, erzwang Pilsudskį — im wahrsten Sinne des Wortes — von ihm eine Erklärung, dass „zwischen Litauen und Polen kein Kriegszustand herrscht“. In dieser Situation griff auch der Völkerbundrat ein. Er empfahl den Regierungen Polens und Litauens, „möglichst schnell direkte Verhandlungen aufzunehmen, um das zwischen den beiden benachbarten Ländern herrschende gute Einvernehmen, von dem auch der Frieden abhinge, zu festigen“.

Am 11. Dezember fand ein Gespräch des polnischen Außenministers August Zaleski mit Voldemaras statt, in dem der Auftakt zu direkten Verhandlungen auf den Januar 1928 festgelegt wurde. Die Aufnahme von Gesprächen und die Festlegung der Themen brachte bereits viele Schwierigkeiten mit sich. Die litauische Seite stellte vor der Aufnahme Bedingungen, um Zeit zu gewinnen. Am 9. Februar 1928 trieb Zaleski Voldemaras insofern in die Enge, als er anfragte, ob Litauen sich dem Beschluss des Völkerbundes unterordne und direkte Verhandlungen aufnehmen wolle, die zu friedlichen Beziehungen zwischen Polen und Litauen führen würden. Voldemaras betrachtete eine solche Fragestellung als „Ultimatum“. Dennoch schlug er in seiner Antwort vor, am 30. März Verhandlungen in Königsberg zu beginnen. Zaleski war damit einverstanden.

In Wirklichkeit jedoch war Voldemaras an der Führung und vor allem an einem Erfolg der Verhandlungen nicht interessiert. Die Regelung der Beziehungen mit Polen ohne Rückgewinnung Wilnas war für die litauische Regierung undenkbar. Schon nach dem zweiten Verhandlungstag in Königsberg gewann die polnische Seite den Eindruck, dass „Voldemaras nur einen Vorwand sucht, um die Gespräche abzubrechen“. Die polnische Delegation ihrerseits führte die Verhandlungen sehr vorsichtig und suchte auch den kleinsten Fehler zu vermeiden. Über den Verlauf wurden der Völkerbund und die Regierungen der Westmächte genauestens informiert. Für die litauischen Delegierten bedeutete das einen besonderen Druck. Voldemaras musste Rücksichten nehmen und konnte die Gespräche deswegen nicht einfach abbrechen. Die polnisch-litauische Konferenz in Königsberg vom 30. März bis 5. April 1928 endete mit einer formalen Vereinbarung über die Einrichtung dreier gemischter Kommissionen. Die Resultate ihrer Tätigkeit sollten im Herbst 1928 der Plenarsitzung des Völkerbundes vorgelegt werden.

Die Taktik der litauischen Seite bei der Arbeit in der Kommission war, alle — sogar technische — Fragen mit Wilna in Zusammenhang zu bringen. Die polnischen Delegierten widersprachen dem entschieden und meinten, daß Themen der Grenzänderung nicht Gegenstand der Diskussion sein könnten. Das Ergebnis der Tätigkeit der Kommission fiel sehr bescheiden aus. Die spätere Wiederaufnahme von Verhandlungen stieß auf erhebliche Schwierigkeiten. Der Ausdauer der polnischen Delegation ist es zu verdanken, dass am 3. November 1928 die Verhandlungen fortgesetzt wurden. Das fünf Tage andauernde Treffen brachte nur wenig Fortschritte. Der einzige konkrete Gewinn bestand in der Ratifikation eines Vertrages über den kleinen Grenzverkehr. Das tägliche Leben erzwang diese Vereinbarung, weil die Unzufriedenheit mit der bisherigen Situation sowohl auf der polnischen als auch auf der litauischen Seite deutlich spürbar war.

Im allgemeinen brachten die Gespräche 1928 in den wichtigsten Punkten kein Weiterkommen, was hauptsächlich auf die Unnachgiebigkeit der litauischen Seite zurückzuführen ist, die keine, nicht einmal eine teilweise Regelung der Beziehungen mit Polen ohne die Rückgabe Wilnas eingehen wollte. In der Abschlusssitzung der Konferenz wies Zaleski unter anderem darauf hin und sagte mit Sorge über den ungelösten polnisch-litauischen Konflikt: „Le conflit polono-lithuanien constitue non seulement une menace constante pour le développement normal des deux Etats, mais il porte une préjudice sérieux aux intérêts économiques des Etats tiers. Il crée en cette partie de l’Europe une atmosphère malsaine d’inquiétude et de malaise“.

Die litauische Regierung machte kein Geheimnis daraus, dass sie in der bestehenden Situation weiterhin an einer Regelung der Beziehungen mit Polen nicht interessiert sei. Sie stellte zum Beispiel in einem Aide-memoire vom 23. Januar 1929 deutlich fest: „(...) ausschließlich und einzig die gewaltsame Wegnahme Wilnas durch General Zeligowski (ist) der Grund, daß es keine diplomatischen und anderen Beziehungen zwischen Litauen und Polen gibt. Solange keine Wiedergutmachung des Litauen angetanen Schadens erfolgt, solange wird Litauen mit der Aufnahme der Beziehungen zu Polen warten.“

Die Hartnäckigkeit und die Unnachgiebigkeit der litauischen Seite zogen das Interesse ausländischer Beobachter auf sich. Sie waren der Meinung, daß die Wilna-Frage nur ein Vorwand sei; in Wirklichkeit profitiere Litauen von der Auseinandersetzung mit Polen. Adolf von Grabowsky schrieb zum Beispiel im November 1928 in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“: „Wilna ist, richtig betrachtet, für Litauen nur der Anlass, um den entschiedenen Gegensatz zum großen polnischen Nachbarn deutlich zu machen und bei diesem Konflikt ein eigenes litauisches Nationalgefühl und damit erst den litauischen Staat gründlich herauszuformen. (...) Solange der Staatsbildungsprozess noch nicht abgeschlossen sei, glaubt man der Wilna-Frage als stärkstem nationalen Reizmittel nicht entbehren zu können.“ In seinem Konflikt mit Polen rechnete Litauen mit der Unterstützung Deutschlands und Russlands. In Kaunas ging man davon aus — das galt fast wie ein unerschütterlicher Grundsatz —, dass Warschau auf unabsehbare Zeit mit Berlin und Moskau in Konflikt stehe. Auf dieser Grundlage entwickelte man seine Pläne und gründete seine Hoffnungen. Mittlerweile — Anfang der 30er Jahre — zeichnete sich jedoch eine radikale Änderung der Situation ab, die die ganze Konstruktion ins Wanken brachte. Den ersten Schwachpunkt stellte 1932 die Verschlechterung der litauisch-deutschen Beziehungen vor dem Hintergrund der Unstimmigkeiten in Memel dar. Gleichzeitig besserten sich die polnisch-sowjetischen Beziehungen. Das zeigte der am 25. Juli 1932 geschlossene polnisch-sowjetische Nichtangriffspakt.

Zum wichtigsten Ereignis jedoch, welches das ganze Fundament der bisherigen Politik Litauens erschütterte, wurde am 26. Januar 1934 die Unterzeichnung der polnisch-deutschen Erklärung über Gewaltverzicht. Die Reaktion auf diesen Vertrag war in Litauen sehr heftig. Die Presse beschäftigte sich ausführlich mit dem Problem. Das größte Aufsehen erregte damals das Vorgehen von Voldemaras. Der ehemalige, inzwischen entmachtete Ministerpräsident trat zu einem offenen Angriff gegen die Regierung an. In der Zeitschrift „Tautos Balsas“ veröffentlichte er einen Artikel unter dem Titel „Auf den Wegen der Bestimmung“ (die Zeitungsausgabe wurde übrigens sofort beschlagnahmt). In dem Beitrag verglich Voldemaras den Vertrag vom 26. Januar mit einem Blitzschlag und betonte, daß dadurch Litauen auf Polens Gnade angewiesen sei. „Was die Sicherheit des Staates betrifft“, schrieb Voldemaras, „gerät Litauen in eine so schwierige Lage, wie es sie in seiner ganzen Existenz noch nicht kennen gelernt hat“. Daneben griff er auch die aktuelle Politik scharf an.

Andere Funktionäre gingen noch weiter. Es wurden wieder Stimmen laut, die die Notwendigkeit einer Überprüfung des Verhältnisses zu Polen und zur Wilna-Frage betonten. Am 2. Mai 1934 organisierte man unter anderem an der Universität Kaunas eine große Diskussion. Vincas Čepinskis, der als erster das Wort ergriff, wies auf die Notwendigkeit der Gründung eines Bundes der Ostsee-Anliegerstaaten und der Schaffung einer Verständigungsmöglichkeit mit Polen hin. Er äußerte die Meinung, daß eine sofortige Rückgabe Wilnas an Litauen zu einer Wirtschaftskrise führen könne. „Das Schicksal selbst“, sagte er, „schützt Litauen vor der Rückgewinnung Wilnas. Litauen sollte mit Polen die wirtschaftlichen Fragen regeln und für die Rückführung Wilnas andere Wege als bisher gehen“. Andere Redner wiesen ebenfalls auf die Notwendigkeit einer Verständigung mit Polen hin und ließen die Wilna-Frage offen. Derartige Aussagen stießen zwar auf die Kritik der regierungstreuen Presse und nationalistischer Kreise, trotzdem setzte sich das Bewusstsein durch, nach neuen Lösungswegen zu suchen. In dieser Situation kam es zu einer Intensivierung vertraulicher polnisch-litauischer Kontakte sowie zu einer Reise der Gesandten Pilsudskis, des ehemaligen Ministerpräsidenten Aleksander Prystor und des Diplomaten Anatol Mühlstein, nach Litauen.

Während eines Treffens mit dem litauischen Außenminister Stasys Lozoraitis am 22. Juni 1934 sprach Prystor von der Notwendigkeit, einen Durchbruch in den beiderseitigen Beziehungen zu erreichen. Er versicherte, daß die Polen uneingeschränkt für eine Verständigung mit Litauen seien. Mühlstein schlug im Gespräch mit Lozoraitis am 24. Juli 1934 vor, zwischen Polen und Litauen normale Beziehungen herzustellen. Mühlstein betonte seine Überzeugung, dass Litauen in der neuen Situation nichts verliere, da es ausdrücklich erklären könne, dass sich seine Haltung prinzipiell nicht geändert habe. Lozoraitis fragte Mühlstein daraufhin, auf welche Art und Weise dies zur Rückgewinnung Wilnas durch Litauen beitragen würde. Mühlstein antwortete, dass die Herstellung guter Beziehungen um den Preis eines Verzichtes auf Wilna für die polnische Regierung nicht annehmbar sei.

Diese grundlegende Differenz blieb bestehen. Die neue internationale Konstellation sowie die damit verbundene Fehlkalkulation in der Außenpolitik Litauens erwiesen sich als zu schwache Faktoren, um zu einer generellen Änderung der Einstellung der litauischen Regierung in der Wilna-Frage und im Verhältnis zu Polen beizutragen. Andererseits war die polnische Position ebenfalls unnachgiebig. Für Polen kam eine Regelung der Beziehungen ausschließlich auf der Grundlage des Status quo in Frage.

Nach den in den Jahren 1934 und 1935 geführten Gesprächen und gegenseitigen Sondierungen erfolgte eine deutliche Verhärtung der beiderseitigen Haltung. Der jahrelang andauernde Konflikt belastete die polnische Regierung immer mehr. Minister Jozef Beck wurde zum entschlossenen Gegner jeglicher Teil- und Halblösungen oder einer Verständigung auf dem Wege kleiner Schritte. Er vertrat die Ansicht, dass vor allem Vereinbarungen über die Herstellung normaler diplomatischer Beziehungen eine grundlegende Bedingung darstellten. Folglich suchte er nach verschiedensten Mitteln, um Litauen durch Druck zu Zugeständnissen zu zwingen. Doch die Litauer waren harte, unnachgiebige Gegner. Trotz der Zweifel eines Teils der öffentlichen Meinung hatte die litauische Regierung die Mehrheit des Volkes auf ihrer Seite. Sie benutzte geschickt die Wilna-Parole.

Die polnisch-litauischen Beziehungen nahmen in den Jahren 1936 und 1937 angesichts dieser Situation erneut an Schärfe zu. An der Grenze mehrten sich die Zwischenfälle. Bei einem derartigen Zusammenstoß wurde ein Soldat des polnischen Grenzdienstes in der Nacht vom 11. März 1938 von litauischen Grenzsoldaten erschossen. In Warschau beschloss man, den Fall für einen harten Protest gegen die litauische Seite auszunutzen, und reagierte auf den Vorfall mit einem scharf formulierten Kommunique. Die polnische Seite zögerte jedoch mit einer endgültigen Entscheidung bis zur Rückkehr Becks aus dem Ausland. Nach seiner Ankunft am 16. März wurde auf dem Zamek ein Treffen unter der Leitung des Präsidenten der Republik einberufen. Anfänglich waren die Meinungen der Anwesenden geteilt. Präsident Ignacy Moscicki und Vizepremier Eugeniusz Kwiatkowski lehnten entschiedene Schritte gegenüber Litauen ab. Andere waren dagegen für weitreichende Forderungen, u.a. den offiziellen Verzicht Litauens auf Wilna. Minister Beck plädierte für eine entschlossene Haltung, beschränkte aber die Forderungen auf die Wiederherstellung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Seine Meinung setzte sich durch.

Auf dieser Grundlage wurde eine ultimative Note verfasst, die u.a. folgende Aussage enthielt: „Die polnische Regierung teilt mit, dass sie für die einzige der Situation angemessene Lösung die sofortige Herstellung der normalen diplomatischen Beziehungen hält, ohne jegliche conditions préalables.“ Der Termin für die Antwort war sehr knapp bemessen — er betrug nur 48 Stunden. Die litauische Regierung gab, nachdem sie keine Hilfe erhielt, dem Druck nach und nahm das Ultimatum an. Weder während der Zeit, in der das Ultimatum lief, noch direkt danach wurde in den polnisch-litauischen Verhandlungen die Wilna-Frage angesprochen. Die polnische Position setzte sich durch. Zwischen beiden Staaten wurden auf der Grundlage des Status quo diplomatische Beziehungen aufgenommen. Das bedeutete aber nicht, dass die Wilna-Frage gänzlich aus der Sicht beider Partner verschwand.

Der litauische Außenminister Juozas Urbsys äußerte sich nach Jahren folgendermaßen zu den Ereignissen: „Das Ultimatum Polens verlangte in drohender Form nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, ohne Wilna zu erwähnen. Also, Litauen nahm das Ultimatum an, ohne auf Wilna zu verzichten. Heutzutage wird diese Entscheidung als positiv empfunden. Wäre es vernünftig gewesen, das Land der Gefahr eines Krieges wegen der Nichtherstellung von diplomatischen Beziehungen auszusetzen ? Die Antwort ergibt sich aus der Frage selbst. Sich externen Forderungen zu beugen, verletzt, wie jeder weiß, den Stolz eines Volkes; jedoch, wenn man sich zwischen zwei Übeln entscheiden muss, ist es selbstverständlich, dass man das kleinere wählen soll.“

Nach der Märzkrise verbesserten sich die polnisch-litauischen Beziehungen zunächst allmählich, dann immer schneller. Die Wilna-Frage belastete sie dennoch weiterhin. Im Frühjahr 1938 wurde eine neue litauische Verfassung angenommen. Sie enthielt auch einen Passus, dass Wilna die Hauptstadt Litauens sei. Die polnische Seite reagierte: Man beauftragte den neuen polnischen Gesandten in Kaunas Franciszek Charwat, für die Zeit der Verfassungsfeierlichkeiten nach Polangen zu fahren, und teilte der litauischen Regierung mit, dass Polen eine Regelung der gesamten Fragen mit Litauen anstrebe. Durch die Beibehaltung des Wilnaer Artikels in der neuen Verfassung wurde eine Ausweitung der Gespräche auf politisches Gebiet unmöglich.

Trotz dieses Hindernisses lässt sich in den gegenseitigen Beziehungen besonders seit Herbst 1938 eine deutliche Verbesserung erkennen. Die größere Initiative kam von litauischer Seite. Die polnische Diplomatie gab zu verstehen, dass sie bereit sei, auf das Annäherungsangebot einzugehen, erwartete aber eine Geste des guten Willens. Der Vizeminister Jan Szembek notierte am 9. November 1938 in seinem Tagebuch, daß Beck „die litauische Initiative, die gegenseitigen Beziehungen zu erweitern, annehme. Eine Vorbedingung sei jedoch die Auflösung des Vereins für die Befreiung Wilnas, danach könne man sich mit dem litauischen Museum in Wilna befassen, Handelsvereinbarungen aufnehmen und gegenseitig Konsulate einrichten.“

Als Massstab für die litauischen Absichten galt schon bald die Erfüllung der polnischen Wünsche; am 25. November 1938 wurde der Verein für die Befreiung Wilnas aufgelöst. Das war eine deutliche Geste in die polnische Richtung. Eine andere Maßnahme war der Wechsel auf dem Posten des litauischen Gesandten in Warschau. Die Stelle von Kazys Škirpa nahm Jurgis Šaulys ein, der wegen seiner propolnischen Orientierung seit Jahren bekannt war. Dem litauischen Vorgehen lag die Hoffnung auf polnische Unterstützung in der Memelfrage zugrunde, da ein immer größer werdender Druck der deutschen Seite spürbar wurde.

Wie den Dokumenten zu entnehmen ist, fühlte sich Litauen in gewissem Grade enttäuscht über das Fehlen einer entsprechenden polnischen Reaktion auf einen derart entscheidenden Schritt wie der Auflösung des Vereins für die Befreiung Wilnas. Oberst Leon Mitkiewicz, der polnische Militärattache, berichtete am 19. Dezember 1938, dass der Leiter der zweiten Abteilung des litauischen Generalstabs, Oberst Kostas Dulksnys, sich bei ihm beklagt habe, dass „auf so einen bedeutenden und risikoreichen Schritt Litauens, wie die Auflösung des Vereins für die Befreiung Wilnas, keine ähnliche Geste von der polnischen Seite folge. Dabei ging es ihm um die Litauische Wissenschaftliche Gesellschaft in Wilna, die noch nicht den Litauern zurückgegeben wurde. Er sagte noch, daß die Auflösung des Vereins für die Befreiung Wilnas der litauischen Regierung große innenpolitische Schwierigkeiten bereite und die Unzufriedenheit der Bevölkerung hervorgerufen habe. Versöhnliche Gesten von Seiten Polens seien unbedingt notwendig, um die öffentliche Meinung zu beruhigen und den guten Willen Polens zu dokumentieren."

Die litauischen Anregungen wurden 1939 erfüllt, als die Litauische Wissenschaftliche Gesellschaft in Wilna unter dem Namen „Litauische Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft“ wiedergegründet wurde.

Man unternahm auch viel zur Verbesserung der allgemeinen Situation der litauischen Minderheit in Polen.

Angesichts des sich verschärfenden Konflikts mit dem Dritten Reich war der polnischen Regierung sehr an einer Entspannung der Beziehungen zu Litauen gelegen. Es ging ihr vor allem um die litauische Neutralität. Wegen dieser Neutralität gab Litauen bei Ausbruch des Krieges dem Druck Deutschlands und der Anregung, Wilna manu militari zu besetzen, nicht nach.

Als Folge der Aggression der UdSSR gegen Polen und der Besetzung Wilnas durch die sowjetische Armee am 19. September 1939 änderte sich die Situation jedoch radikal. Der Ribbentrop-Molotow-Pakt, insbesondere der „Grenz- und Freundschaftsvertrag" vom 28. September 1939 brachte Litauen in den sowjetischen Interessenbereich. Stalin nutzte die Situation, rief die Vertreter der litauischen Regierung nach Moskau und verlangte von ihnen das Einverständnis für die Errichtung sowjetischer Stützpunkte auf dem Territorium Litauens.

In diesen Tagen des politischen Wandels notierte der ehemalige Rektor der Universität Kaunas, Riomeris, in seinem Tagebuch unter dem 8. Oktober 1939: „Solange Polen stand, war Litauen ohne Wilna sicherer und freier als heute, wenn es unter der sowjetischen Besatzung Wilna bekäme, nachdem Polen gefallen ist.“

Einen Tag später, am 10. Oktober, erzwang die sowjetische Regierung von Litauen einen Vertrag, der ihr ermöglichte, ihre Armee auf dem litauischen Territorium zu stationieren. Gleichzeitig übergab die Sowjetunion Litauen Wilna mit einem Teil des umliegenden Gebietes. Unter diesen Bedingungen kam Litauen in den Besitz der ersehnten Stadt.

Dieser Akt wurde von der polnischen Seite nicht anerkannt. Nach einer Vereinbarung mit der polnischen Exilregierung überreichte der polnische Gesandte Charwat am 13. Oktober 1939 dem litauischen Außenministerium eine Protestnote mit folgendem Inhalt: „Im Namen meiner Regierung protestiere ich hiermit öffentlich und kategorisch gegen diesen mit dem internationalen Recht und den Menschenrechten nicht konformen Akt. Polen wird nie diesen ungerechten Schritt anerkennen und wird mit allen Mitteln um die Wiederherstellung seiner Rechte und seines Territoriums kämpfen.“ Als ein Zeichen des Protests verließ Franciszek Charwat bald darauf samt seinem Personal die Botschaft in Kaunas. Dies war in den Jahren 1918 bis 1939 die letzte polnische Handlung zur Wilna-Frage.

 

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