Juden in Litauen


Auf https://alles-ueber-litauen.de steht viel über die litauisch-jüdische Geschichte.


Manchen Leser könnten Bemerkungen irritieren, wie die Unterscheidung "Litauer und Jude" (oder Litwak, was auch nur Jude aus Litauen heißt), die Dominanz der jüdischen Bevölkerung in den Städten bis 1941 und die Anmerkungen zur Bevölkerungszusammensetzung von Wilna (Vilnius – 1900 etwa 2 % Litauer, restliche Bevölkerung Polen und Juden). Sind nicht alle Bewohner Litauens Litauer, egal welcher Religion sie angehören? Theoretisch ja ... praktisch wünschen sich die Juden explizit diese Unterscheidung. Zudem macht es die wechselhafte Geschichte Litauens schwierig, eine eindeutige Zuordnung der jüdischen Bevölkerung zur Nation "Litauen" zu erkennen. 

"Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Jude Teil der litauischen Landschaft", sagte Emanuelis Zingeris, Literaturwissenschaftler und Direktor des Jüdischen Museums in Wilna, "wohin man auch kam, man fand eine Kuh, einen Bauern, ein Pferd, einen Juden und ein Fahrrad."   (Butenschön S.56)

Hier möchten wir "kurz" und möglichst einfach die Geschichte der litauischen Juden schildern. Von ihren Anfängen, als sie von Vytautas und Gediminas in deren litauisches Reich eingeladen wurden, bis zum Holocaust 1941, bei dem leider ziemlich viele Litauer den deutschen Besatzern halfen und über 90 % der litauischen Juden umgebracht wurden. Übrigens einer der höchsten Quoten in den von Deutschland besetzten Ländern.


Mittelalter

1323 gründet Großfürst Gediminas die litauische Hauptstadt Vilnius (auch Wilna). Angeblich bekamen die litauischen Juden schon damals Privilegien.

1386 heiratet der litauische Großfürst Jagiello die polnische Thronerbin Jadwiga und wird somit polnischer König. Litauen wird nun von seinem Cousin Vytautas regiert. Vytautas sicherte den Juden die gleichen Rechte wie den Christen zu und wirbt um ihre Ansiedelung auf litauischem Boden. Die damaligen litauischen Herrscher waren religiös tolerant (Jagiello tritt erst 1386 aus machtpolitischen Gründen zum Christentum über) und weitsichtig genug, den Nutzen der jüdischen Zuwanderer (und natürlich anderer westeuropäische Handwerker) zu erkennen.
Vytautas siedelt sogar Juden von der Krim in Trakai (der damaligen Hauptstadt) an, die Karäer. Die 100 Männer sollen für seinen Schutz sorgen. Die mit Frauen und Kindern etwa 480 Karäer lebten allerdings getrennt von den etwa 6.000 damaligen Juden Litauens.

 

18. Jahrhundert

Wilna Gaon


Vielleicht der Höhepunkt des Judentums in Litauen war das Wirken von Elijah ben Solomon Zalman, bekannt als Gaon (der Weise!) von Wilna!
Gaon von Vilnius Litauen

Gaon von Vilnius ®Wikipedia


Er wurde in Sialiec (damals Litauen-Polen) geboren. Heute gehört die Stadt zu Weißrussland (an der polnischen Grenze – zwischen Litauen und der Ukraine). Gestorben ist er in Vilnius, damals gehörte die Stadt zum Zarenreich. So verwirrend ist die litauische Geschichte. Er gilt als bedeutender jüdischer Gelehrter und seine Kommentare zu Thora und Talmud sind heute Standardwerke jüdischer Gelehrsamkeit. Mit vier Jahren konnte er angeblich die Tanach (hebräische Bibel) auswendig. Mit sieben wurde er vom Kedainier Rabbi Moses Margalit unterrichtet. Mit acht Jahren studierte er Astronomie in seiner Freizeit. Ab zehn Jahren setzte er seine Studien alleine fort ... er hatte seine Lehrer im Wissen alle überholt. Mit elf kannte er den Talmud auswendig.

Elijah Ben Salomon Salman verfügte über eine überdurchschnittliche Gelehrsamkeit. Er sprach mindestens zehn Sprachen und war gewandt in Mathematik und Naturwissenschaft. Für ihn waren die Naturwissenschaften die Grundvoraussetzung zum Verständnis der Thora und er ermutigte seine Schüler Naturwissenschaften zu studieren. Er übersetzte sogar Geometriebücher ins Jiddisch- und Hebräische.
Elijah war zweimal verheiratet und hatte mit seiner ersten Frau acht Kinder. Enkel sind 43 namentlich bekannt. Urenkel 143. Laut Wikipedia vervielfachten sich die Nachkommen in jeder Generation um das Vierfache. Alle seine überlebenden Söhne wurden Rabbis, seine Töchter heirateten Rabbis.

Solomon Zalman lehnte das in seiner Zeit aufkommenden Chassidentum ab (er gehörte somit zu den "Misagdim": Gegnern) und bestand auf einer wortgetreuen Auslegung der Thora. Die Chassiden dagegen lebten ein mehr mystisches Judentum. Der Gaon verbot daraufhin Ehen mit Chassiden und es kam zu Exkommunikationen.  

Der Gaon von Vilnius war einer der einflussreichsten Rabbis. Sein Wirken machte Vilnius berühmt.

 

Der deutsche Schriftsteller und Arzt Bruno Alfred Döblin berichtet über einen Besuch in Wilna 1924:

"Wer war der Gaon? Meine jüdischen Führer wissen alles gut... Der Gaon hat Mathematik und Astronomie getrieben, wurde dann durch anderes wichtig. Eine jüdische "Irrlehre" kam in der Ukraine auf. Ein einzelner Mann trug sie vor, ein schwacher Kenner von Talmud und Thora. Der fing an, auf  dem flachen russischen Lande, in den Dörfern und Städtchen, den armen jüdischen Massen allerlei zu erzählen. Der schwache Talmudist war Rabbi Israel Baalschem-tob. Er bewegte sich nicht in den Beßmedresch, den Lernstuben, sondern draußen im Freien, lernte, so erzählte man, die Stimmen der Vögel und Reden der Bäume. 'Ach' , sagt er, 'die Welt ist voller Strahlen und wunderbarer Geheimnisse. Und die kleine Hand liegt vor den Augen und verhindert, daß die großen Lichter erblickt werden.' Dann: 'Was ist die Thora anderes als Leiterin zum Dienst Gottes und Vermittlerin zur Vereinigung mit Gott. Die Rabbiner aber verfolgen nicht dieses Ziel, sondern prahlen mit ihrer Gelehrsamkeit. Jeder kann groß und rechtschaffen sein ohne Kenntnis des Talmuds.'  Die ungebildeten Leute liefen ihm zu ... Sogar Rabbiner folgten ihm ... Fromme, Chassidim, nannten sich diese Leute.'  [AK: Die Gegenbewegung zu den Chassidim waren dann die Misagdim]

Der Gaon war eine Zeit ins Exil gegangen, um sich von seinen Sünden zu reinigen, wanderte durch Polen, Deutschland, bettelte, rang, seine Pflicht gegen Gott zu erfüllen. In Wilno saß er, kasteite sich, studierte Talmud, Kabbala. Nicht einmal seine Angehörigen wollte er sehen. Er war ein Fanatiker des Wissens, ein strenger Kritiker ... Päpstliche Autorität war in dem Gaon. Als es zu wild wurde, belegte er die Chassidim und ihre Führer mit einem Bann. Eine Berührung mit ihnen lehnte er ab, reiste aus Wilno fort, als man ihn drängte, den neuerer zu hören ... Mit siebenundsiebzig Jahren fluchte er ihnen zum letztenmal. Inzwischen hatte sich die neue Lehre, die kaum neu, kaum eine Lehre war, ausgebreitet ... Bücherverbrennungen - von Chassidischen Schriften-, Verfolgungen nahmen zu. Der große Gaon konnte die Bewegung nicht aufhalten, die sogar in seiner Residenz sich einnistete."

Butenschön S60.

 

 

Litauen ist in Westeuropa nicht wirklich bekannt. Aber sogar in Israel Reiseführern (hier "Israel und Palästina" vom Reise Know How Verlag 2018) kann man von Litauens jüdischer Vergangenheit lesen:

"Es handelt sich um die litauischen Juden, auf Jiddisch Litvish oder auch Litvak oder von den Chassidim, Mitnagdim, Gegner, genannt. Sie stammen ursprünglich aus dem Bereich des Großherzogtums Litauen, das im späten Mittelalter bis ans Schwarze Meer reichte. Die Gegnerschaft zu den Chassidim geht auf den Gaon von Wilna, Elia ben Shlomo Salman (1720-1797) zurück, der die mystische Suche der Nähe zu Gott im Chassidismus als pantheistisch einstufte und demgegenüber eine höchst gelehrsame, wortgetreue Tora-Auslegung hochhielt. Gaon, wört­lich Herrlichkeit, war vor dem vom 1. bis 11. Jh nC der Titel der führenden Talmudgelehrten im Zweistromland. Die Litvak wirken durch moderne schwarze Anzüge und weißes Hemd insgesamt eleganter und einheitli­cher als die Chassiden und tragen über der Kippa meist einen breit­krempigen Borsalino; die Schläfen­locken werden oft dezent getragen, z.B. hinter die Ohren gelegt. Die Frau­en können sehr modisch mit überraschend kurzen Röcken gekleidet sein. Sie tra­gen meist Perücken ohne Kopftuch."

 

Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich Litauens Hauptstadt Vilnius (1573 entstand die erste Synagoge in Vilnius) zum berühmten "Jerusalem des Ostens". Während die ethnischen Litauer meist in Dörfern wohnten, lebten die Juden überwiegend in den Städten.

Anfang des 20. Jahrhunderts lebte in keiner der wenigen litauischen Städte eine ethnisch litauische Mehrheit. Obwohl Juden 1920 nur 7 % der Bevölkerung ausmachte betrieben sie 75 % des Handels (die Polen weitere 21%). Götz Aly S. 231

Dementsprechend waren die Besitztümer verteilt. Meist besaßen die Juden die steinernen Häuser der Städte und die Polen waren die Großgrundbesitzer. Trotzdem war auch die Not vieler litauischer Juden groß.

"Alle anderen Stände, alle anderen Klassen der Bevölkerung leben unter besseren Verhältnissen als die Juden". (Siehe Juden in Russland)


Litauens Eigenstaatlichkeit

Litauen war in seiner Geschichte nur relativ kurze Zeit eigenstaatlich. Nachdem 1386 Großfürst Jagiello König von Polen wird, kommt es zu einer Union von Litauen und Polen. Die viel dominantere polnische Kultur (alleine der Unterschied in der Zahl der Einwohner und die Größe der Länder) gewann in Litauen immer mehr an Einfluss. Litauisch wurde nur noch in den Dörfern gesprochen, in den Städten sprachen die Menschen Ruthenisch, Polnisch und immer mehr Jiddisch.

Mit der 3. Polnischen Teilung 1795 besetzte das zaristische Russland ganz Litauen.

 


Juden in Russland

Mit den polnischen Teilungen kamen plötzlich Hunderttausende Juden zum russischen Staat.

Vorher gab es fast keine jüdische Bevölkerung. Im Großfürstentum Moskau, dem Kerngebiet des künftigen Russlands, waren Juden nicht geduldet.  Man hatte vor ihnen Angst, wie vor allen Fremden, und verdächtigte sie der Tätigkeit für fremde Mächte.

Im 18. Jahrhundert war Kaiserin Elisabeth I. feindlich gegenüber den Juden eingestellt. 1742 befahl sie die wenigen im Russischen Reich lebenden Juden des Landes zu verweisen. Als der Senat versuchte, ihren Ausschaffungsbefehl zu widerrufen und darauf hinwies, dass der Handel in Russland und der Staat dadurch in Mitleidenschaft gezogen würden, entgegnete die Kaiserin: „Ich will keinen Nutzen von den Feinden Christi.“ 

 

Die russischen "Neubürger" verpflichtete man in einem sogenannten "Ansiedlungsrayon" zu siedeln, das in etwa dem Gebiet des ehemaligen litauisch-polnischen Staates entsprach. Dieses reichte grob von Palanga an der litauischen Ostseeküste bis zum Schwarzen Meer. Die Verpflichtung im Ansiedlungsrayon zu leben wurde ab 1835 mehrfach gelockert, 1882 von Alexander III. aber wieder strenger angewandt.

Eine Kommission unter Leitung des deutschbaltischen Grafen Konstantin von der Pahlen berichtet Zar Alexander III. 1885:

"Fast neun Zehntel der gesamten jüdischen Bevölkerung sind eine Masse, deren Dasein durch nichts gesichert ist, die tagein, tagaus im Elend unter schlechtesten Bedingungen lebt. Alle anderen Stände, alle anderen Klassen der Bevölkerung leben unter besseren Verhältnissen als die Juden." Aly S. 78

Alexander III. war seinen jüdischen Untertanen wohl nicht sehr zugetan, denn seine "böswillige Lösung für die jüdische Frage war die Konversion [Konvertierung] eines Drittels der Juden, die Auswanderung eines weiteren Drittels und den Hungertod für das verbleibende Drittel". Sutten S. 7

Die Juden konnten die neue Zeit der Moderne im Ansiedlungsrayon aber besser nutzen als die Mehrheit der Bevölkerung. Fleiß und Wissensdurst trieben sie an die Universitäten, wo sie bald überall überproportional vertreten waren. 1886 begann Russland den Zugang seiner Juden zu den Universitäten zu beschränken. Der jüdische Anteil an Studenten (es seinen nur die größten genannt) betrug in Charkow 28 und in Odessa fast 30%.

 

Es kam zu immer mehr Restriktionen. So durften Juden nur noch eine Anwaltspraxis eröffnen, wenn das Justizministerium zustimmte. 15 Jahre wurden fast keine Bewilligungen erteilt, weil "... die Hälfte der Nachwuchsjuristen im Gerichtsbezirk St. Petersburg Juden waren...."

Jsaak Rülf, eine Rabbiner aus Memel, berichtete folgendes von einer Zugfahrt von Vilnius nach Minsk:

Er "... unterhielt sich mit einem Kaufmann über die Pogrome, die sich im Vorjahr ereignet hatten, und fragte nach den Gründen. "Das ganze Unglück des Juden besteht darin," so sein Gegenüber, "dass er unendlich besser, geweckter, brauchbarer, strebsamer und moralischer ist als der Russe." (Aly S. 98)

1914 waren in den nordwestlichen russischen Gebieten nur 8% der Angestellten Russen. Die anderen waren Juden (35%), Polen und Deutsche.

Anfang des 20. Jahrhunderts lebten somit mehr als 90 % der mehr als fünf Millionen "russischen" Juden im Rayongebiet. Beim Widerstand gegen das zaristische System waren Juden in Führungspositionen überproportional beteiligt. Eine Überwindung des alten Systems mit seiner Unterdrückung von Juden und nicht-orthodoxen Christen schien verlockend. Eine bemerkenswert große Zahl der Führung der Bolschewiken waren Juden.

Während es überall im Russischen Reich zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung kam (der Historiker Orlando Figes geht von 1200 Pogromen mit 150.000 Toten zwischen 1919 und 1920 aus) versuchte Lenin den Antisemitismus in Russland einzudämmen:

"The Tsarist police, in alliance with the landowners and the capitalists, organised pogroms against the Jews. The landowners and capitalists tried to divert the hatred of workers and peasants who were tortured by want against the Jews...Only the most ignorant and downtrodden people can believe the lies and slander that are spread about the Jews...It is not the Jews who are the enemies of the working people. ... Among the Jews are working people, and they form the majority. They are our brothers, who, like us, are oppressed by capital; they are our comrades in the struggle for socialism. Among the Jews there are kulaks, exploiters and capitalists, just as there are among the Russians, and among people of all nations...

Rich Jews, like rich Russians, and the rich in all countries, are in alliance to oppress, crush, rob and disunite workers...Shame on accursed Tsarism, which tortured and persecuted the Jews. Shame on those who foment hatred  towards the Jews, who foment hatred towards other nations." W. Lenin auf Schallplatte 1919

 

Lenin kennzeichnete den Antisemitismus als ekelhaften Überrest aus den alten Zeiten der Leibeigenschaft und stockfinsterer Unwissenheit. Seiner Partei gehörten 5 % Juden an, allerdings 30 % dem Zentralkomitee.

Jüdische Elemente seien eine Reserve vernünftiger, des Lesens und Schreibens kundiger Arbeitskräfte, mit derer Hilfe es gelungen sei, die Revolution in schwieriger Zeit zu retten. Aly S.212 

Und der jüdische Historiker Zvi Gitelmann meint dazu: "Never before in Russian history – and never subsequently has a government made such an effort to uproot and stamp out antisemitism." 

(Gitelman: Antisemitism in the Contemporary World) 

Es gab sogar eine jüdische autonome Zone im russischen Fernen Osten (in Birobidzhan, als russische Alternative zu Palästina) die aber nie mehr als 30 % jüdische Einwohner hatte. Ab den 1930er Jahren führte der zunehmende Zwang zur Russifizierung zu einem Aus für die jüdische Sektion (Yevsekstia) in der Bolschewistischen Partei. In Weißrussland wurden alle jüdischen Schulen geschlossen. 

 

 Litauen auf dem Markt von Vabalninkas

Juden auf dem Markt

 

Hier sieht man, dass die jüdische Bevölkerung in den Gebieten von Litauen, Polen und Weißrussland noch mehr nationalstaatliche Wirren durchleben mussten, wie z.B. die ethnischen Litauer, die in den Dörfern zumindest weiter ihre litauische Sprache und Geschichte hatten. Wahrscheinlich lernten die Juden in den Städten schneller russisch. Immerhin gehörten sie von Beginn der Polnischen Teilungen bis zur litauischen Unabhängigkeit 1918  zu Russland. Wer nachlesen möchte, wie das Leben der Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russisch-Litauen war, dem sei die Lektüre von Grigori Kanowitsch "Ein Zicklein für zwei Groschen" empfohlen.

Machen fast 140 Jahre Leben in Russland jemanden zum russischen Staatsbürger? Interessante und komplizierte Frage. Für Juden und Litauer gab es da sicher unterschiedliche Nuancen.

Am Ende der 1930er Jahre sah die Lage folgendermaßen aus:

Durch den Hitler-Stalin Pakt schob sich das deutsche Machtgebiet bis an die russische Grenze. Für die osteuropäischen Juden war das eine Katastrophe, nämlich der sichere Tod!

 

 

Litauen ab 1918 

Um 1900 kam es zu einem wiedererstarken der litauischen Identität. Menschen, die gar kein Litauisch konnten, besannen sich ihrer Wurzeln, lernten Litauisch und setzten sich für einen unabhängigen Staat ein (Ciurlionis zum Beispiel).

"Eingeklemmt zwischen Russen, Polen, Deutschen und Letten lebten die allermeisten der Litauisch-sprechenden, wenig gebildeten und armen Einwohner in den Dörfern." Aly S. 229

Die Juden störten dieses Projekt Litauen. So nannte der Arzt Jonas Sliupas 1884 (ihm ist heute eine nationale Gedenkstätte in Palanga gewidmet): " Juden sind Blutegel; Schlafende saugen sie aus und lassen sie ausgelutscht zurück".

Besonders die katholische Kirche agitierte gegen die jüdischen Mitbürger. "Wer Gott liebt, der wird uns vor den Juden retten" und "Die Juden würden Litauen bald verlassen, würden wir Litauer uns mehr im Handel engagieren, selbst einzelne und gemeinschaftliche Geschäfte gründen und alles nur bei den Unsrigen kaufen." Und der christdemokratische Politiker Antanas Stugaitis meinte: "Wer den nationalen und sozialen Fortschritt der litauischen Massen wolle, der müsse die wichtigste Blockade beim Namen nennen und mit dem Finger auf die Juden zeigen." (Aly S.230)

Im Februar 1918 erklärte Litauen, noch unter deutscher Besatzung, seine Unabhängigkeit. Es gelang diese gegen die Rote Armee und gegen die Polen durchzusetzen. Das litauische Sprachgebiet beschränkte sich auf Kaunas und die Dörfer. Vilnius gehörte durch den Schachzug von  Josef Pilsudski wieder zu Polen. In der Stadt lebten Juden und Polen und es gab nur knapp 3 % Litauer. In keiner der wenigen litauischen Städte waren Litauer in der Mehrheit. Aly S. 231

 

Der Handel lag zu 75% in jüdischer Hand, knapp 46% der Immobilien in den Städten gehörten Juden (zu 7% Litauern). Durch die Agrarreform von 1922 wurde den Großgrundbesitzern (Deutschen, Polen und Russen) Land genommen und an Landlose verteilt. Die Juden betraf das nicht. Sie litten auf andere Weise. Staatliche Stellen wurden nicht an Juden vergeben. In Kaunas, wo Juden ein Drittel der Bevölkerung ausmachte, gab es gerade mal elf jüdische Angestellte. Mit der 1940 erfolgten erneuten Besetzung Litauens durch die Sowjetunion, durften Juden wieder in staatlichen Organen arbeiten und fielen durch ihre vorherige Abstinenz auf. 

Die nun (wie gesagt, Litauen ist ja erst 1918 unabhängig geworden, nach langer polnischer Dominanz und anschließend 140 Jahren russischer Besetzung) zu Litauen gehörenden Juden, sprachen sehr gut Polnisch, Russisch und Deutsch. Das in den Städten unübliche Litauisch aber nicht. Aly S. 232

 

Age Meyer Benedictsen, ein dänischer Ethnograf,  berichtet über seine Reise nach Litauen in den frühen 1890er Jahren in seinem 1924 erschienenen Buch "Lithuania...Awakening of a Nation" [1890 gehörte Litauen natürlich noch zu Russland]  (Zitat aus Lamonis Briedis Buch "Vilnius...City of Strangers"):

Die Juden waren seit der frühesten Zeit, über die wir zuverlässige Aufzeichnungen haben, in Litauen, aber sie waren weder willens noch fähig, sich mit den Einheimischen des Landes zu assimilieren. Ihre große Zahl, ihre Vorurteile, ihr religiöser Fanatismus und ihre uralte Sondergesetzgebung haben dazu beigetragen, ihre Position als ein völlig fremdes Element im Land zu festigen. Die vielen Jahrhunderte haben sie eher von der einheimischen Rasse entfremdet, als sie mit dieser zu vereinen, sie sprechen untereinander nicht die Landessprache, sondern benutzen ihren eigenen hebräisch-deutschen Dialekt, sie kleiden sich nicht wie das übrige Volk; obwohl man ihnen verboten hat, ihre alte eigentümliche Kleidung zu benutzen, schaffen sie es durch ihre Kleidung, anders auszusehen als andere Menschen. Sie haben weder Freunde noch Feinde oder gemeinsame Interessen mit dem Volk. Die Politik der Juden war in der Hauptsache opportunistisch, und sie war es aus Notwendigkeit; sie waren nie gewillt, sich wirkliche Freunde zu machen, aus Angst, sich dadurch Feinde zu machen  [AK: !]. Sie haben sorgfältig gewittert, von welcher Seite sie vorläufig den größten Schutz zu erwarten haben, und sie haben nie gewagt, sich darauf zu verlassen, in Sicherheit zu leben; sie haben wahrscheinlich nicht so das Interesse daran gehabt, dort zu leben, das sie gehabt hätten, wenn sie das Gefühl gehabt hätten, in einem eigenen Land zu leben. Litauen ist der Ort gewesen, an dem die Juden den einfachsten und aufrichtigsten Glauben an den Messias gehabt haben. Nirgendwo waren sie mehr bereit, den Erlöser zu empfangen, als in dieser abgelegenen Ecke, wo die Umgebung ihnen erlaubte, alle Erinnerungen, ihre Traditionen und Bräuche in ihrer ganzen mystischen Unklarheit zu bewahren. Bis zum heutigen Tag sagen die litauischen Juden mit derselben Zuversicht wie vor Jahrhunderten: 'Er kommt gewiss und Er kommt bald.'
Man sollte den litauischen Juden im Lichte dieses festen Glaubens, oder jedenfalls der erblichen Neigungen, die in diesem Glauben gründen, betrachten, um ihn zu verstehen zu versuchen, denn nur dann kann man ihm seine ganze Lebensweise verzeihen; man kann sogar etwas Großes in diesem Volke erkennen, das einem sonst unfreiwilig ungünstig beeindruckt.
Die litauischen Juden fühlen sich als Fremde, halb heimatlos inmitten eines Volkes, das sie meidet, ihr ganzes Dasein ist ein einziges ständiges Bestreben, auf dem einfachsten Wege eine Gleichgewichtslage zu halten, das nötige Brot zu finden, auf ihre eigene zwielichten Weise möglichst viel Macht zu erlangen, und es kümmert die jüdische Auffassung wenig, ob diese Macht zum Guten oder zum Bösen des Landes ist, in dem sie leben. So demütig und erbärmlich der Jude oft erscheint, der Stolz der Rasse wohnt noch in ihm. Was kümmert ihn die Grobheit und Verachtung der Ungläubigen, er verschenkt nur, wenn er dazu gezwungen ist, sein geistiger Stolz leidet nicht darunter.... Schmutzig, gemein und gierig von einem oberflächlichen Standpunkt aus betrachtet, besitzt der Jude noch das Gold der Seele, das zur rechten Zeit glänzen kann, und wenn man sich ihm ohne jedes dumme Vorurteil nähert, kann man das Gute in ihm sehen, dann werden die besten menschlichen Eigenschaften, Sympathie und Hilfsbereitschaft sichtbar.
Dieser zweiseitige Zustand ist die Ursache für jene falsche Stellung, unter der die Juden in Litauen seufzen, und es gibt viele unter ihnen, die das Ziel aus den Augen verloren haben, weil sie sich mit den Mitteln beschäftigen, wie sie es erreichen können.

Besser kann man auch die Situation (Beziehungen der ethnischen Litauer und litauischen Juden) vor dem II. Weltkrieg nicht beschreiben.

 

Einen Eindruck über das litauische Judentum der Zwischenkriegszeit vermittelt der schon oben erwähnte Alfred Döblin in seinen Aufzeichnungen über einen Besuch in Wilna 1924:

"Ich kann mich nicht enthalten zu denken, wie ich hinausgehe: Welch imposantes Volk, das jüdische. Ich habe es nicht gekannt, glaubte, das, was ich in Deutschland sah, die betriebsamen Leute wären die Juden, die Händler, die in Familiensinn schmoren und langsam verfetten, die linken Intellektuellen, die zahllosen unsicheren unglücklichen feinen Menschen.Ich sehe jetzt: Das sind abgerissene Exemplare, degenerierende, weit weg vom Kern des Volkes, das hier lebt und sich erhält. Und was ist das für einen Kern, der solche Menschen produziert wie den hinflutenden reichen Bal-Schem, die finstere Flamme des Gaon von Wilno. Was ging in diesen scheinbar kulturarmen Ostlandschaften vor. Wie fließt alles um das Geistige. Welche ungeheure Wirklichkeit misst man dem Geistigen, Religiösen zu?"

Alfred Döblin  Reise in Polen (1924)

Und in einer Zusammenfassung 1934 schrieb er:

"Als ich vor einem Jahrzehnt die alte, geschlossene Judenheit in Polen aufsuchte und zum ersten Mal, staunend, ergriffen, tief bewegt und noch ohne Ahnung von dem, was kommen sollte, jüdisches Volk und Leben sah, öffneten sich mir die Augen: Ostjuden können Juden sein, Westjuden können nicht Juden sein". A. Döblin Ende und Wende der Emanzipation (1934)

 

Der Anteil der jüdischen Studenten im Vergleich mit den Litauern war viel höher. Litauer begannen Einschränkungen für Juden zu fordern und mehr "einheimische Intelligenz" zu unterstützen. Der Staat begann seine jüdischen Einwohner zu diskriminieren. Juden wurden 1934 aus der Holzwirtschaft, dem Transportgewerbe, dem Handel mit Tabak, Flachs, Streichhölzern, Kohle und Zucker ausgeschlossen. Öffentliche Aufträge gingen an "christliche" Unternehmen. Litauen sollte wieder den Litauern gehören.

Litauen den Litauern

Litauen den Litauern

 

Besonders unrühmlich empfinde ich die Arbeit des Nationalen Schützenverbandes, der sogenannten "Šiaulisten", die sich stark an der antisemitischen Agitation beteiligten und auch während des späteren litauischen Holocaust eine unrühmliche Rolle spielen sollten. (Mitglieder der Šiaulisten saßen auch in Telsiai im Gefängnis (Rainiai Massaker)).

So attackierten Redner der Šiaulisten das "destruktive jüdische Gebaren", wollten "die Juden aus der Wirtschaft [zu] eliminieren, um so die Positionen der Litauer zu unterstützen".

Der wirtschaftliche und geistige Aufstieg der Litauer sollte auf Kosten der Juden stattfinden. Aly S. 233 

 

Während die Regierung Smetona noch eine relativ liberale Judenpolitik betrieb (Smetona und Außenminister Urbsys sollen auch die Sowjetische Dominanz als das kleinere Übel angesehen und den Deutschen einen Sieg gegen den mächtigen Anglo-Amerikanischen Gegner nicht zugetraut haben [Suziedelis Lithuanian Collaboration zit. Liudas Truska "Smetona"], stachelte die von Augustinas Voldemaras gegründete Organisation "Eiserner Wolf" (Gelezinis Vilkas) zum Judenhass auf. 

Christoph Dieckmann beschreibt die Gelezinis Vilkas als "radikale faschistische Gruppe", die 1927 als geheimer paramilitärischer Verband nach dem Vorbild der italienischen Faschisten gegründet wurde. Voldemaras benutzte sie, um die Regierung Smetona zu bekämpfen.

"Der Verband hatte kein politisches Programm, sondern verstand sich als aktive politische Wache des litauischen Volkes, der alle »antivölkischen« und »antistaatlichen« Aktivitäten bekämpfen wollte, um eine neue Ordnung nach italienischem Vorbild zu schaffen. Seine Hauptgegner sah er in Polen und Juden. Er behauptete, seine Ziele seien "die Ehre des Volkes und das Wohlergehen des Staates". In Kaunas hatte der Gelizinas Vilkas 1930 etwa 1.000 bewaffnete Mitglieder. 

Nach dem litauisch-sowjetischen Beistandspakt von Oktober 1939 kam es in Kaunas zu wilden pro-sowjetischen Demonstrationen, bei denen überdurchschnittlich viele Juden teilnahmen. (Suziedelis)

Juden in Litauen begruessen  die Rote Armee und Stalin

Litauische Juden begrüßen den Beistandspakt mit der Sowjetunion  (Foto Sela Museum Birzai) und 1940 die sowjetischen Truppen mit Blumen. Ein Jahr später begrüßen die Litauer die Wehrmacht mit Blumen.

 

Laut Frieda Frome lebten Litauer, Juden, Russen und Deutsche unter Smetona friedlich und mit gegenseitiger Toleranz zusammen. Das änderte sich nach dem litauisch-sowjetischen Beistandsabkommen von 1939 mit der Einrichtung von sowjetischen Basen. 

"As the Communists became more active after the establishmet of Soviet bases in October 1939, she recalls, "little by little my thoughts were channeled into the Russian stream of ideology ... so strongly that my parents were horrified at the opinions I expressed."  (Suziedelis)

 

Saulius Suziedelis meint, die zunehmende antisemitische Haltung der LAF Führung in Berlin könnte durchaus aus Litauen und der dortigen Stimmung selbst gekommen sein und hätte kaum einen Anstoß von außen gebraucht. Das Programm der LAF, die "Richtlinien zur Befreiung Litauens" nehmen die Geschehnisse im Sommer 1941 ziemlich präzise vorweg (auch wenn sich wahrscheinlich von den Litauern kaum jemand die tatsächlich folgende Brutalität so vorgestellt hatte) .

In den "Lietuvai islaisvinti nurodymai" (Richtlinien zur Befreiung Litauens) vom 24. März 1941 steht über den weiteren Umgang mit den litauischen Juden:

"It is very important on this occasion to shake off the Jews. For this reason it is necessary to create within the country such a stifling atmosphere against the jews that not a single Jew would dare to even allow himself the thought that he would have even minimal rights or, in general, any possibility to earn a living in the new Lithuania. The goal is to force all the Jews to flee Lithuania together with the Red Russians. The more of them who leave Lithuania at this time, the easier it will be to finally get rid of the Jews later. The hospitality granted to the Jews during the time of Vytautas the Great is hereby revoked for all time on account of their repeated betrayal of the Lithuanian nation to its oppressors." (Suziedelis Lithuanian Collaboration)

 

Noch am 14-17. Juni 1941 kam es zu Deportationen von 20.000 Menschen (Litauer, Polen, Juden) nach Sibirien. Welches Leid diese Menschen erlebten, kann man bei der Lektüre von Dalia Grinkeviciute's Buch "Aber der Himmel...grandios" erahnen.

Unter den 20.000 Deportierten befanden sich weniger als 2.000 Juden, (Suzieldelis "Lithuanian Collaboration") damit aber immer noch überproportional viele im Vergleich zur ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung.

 

87 % der in der Vorkriegs-UdSSR lebenden Juden waren urbanisiert. Im Ansiedlungsrayon sogar 90 %! (Raul Hilberg S. 305)

Anteil der Juden in den von Deutschen besetzten Orten im Osten:

Stadt und Jahr                        Jüdische Bevölkerung
der Volkszählung                (Anteil an der Gesamtbevölkerung in Klammern)
Odessa (1926)                         153200(36,4)
Kiew (1926)                            140200 (27,3)
Lemberg (1931)                       99600(31,9)
Dnjepropetrowsk (1926)           83900 (36,5)
Charkow (1926)                         81100(19,4)
Chisinau (1925)                         80000 (60,2)
Wilna (1931)                            55000 (28,2)
Minsk (1926)                             53700 (40,8)
Cernauti (1919)                        43700 (47,7)
Riga (1930)                              43500 ( 8,9)
Rostow (1926)                         40000(13,2)
Bialystok (1931)                        39200 (43,0)
Gomel (1926)                           37700(43,6)
Witebsk (1926)                        37100 (37,6)
Kirowograd (1920)                    31800 (41,2)
Nikolajew (1923)                      31000 (28,5)
Krementschug (1923)               29400 (53,5)
Zitomir (1923)                          28800 (42,2)
Berditschew (1923)                    28400(65,1)
Cherson (1920)                        27600 (37,0)
Kaunas (1934)                         27200 (26,1)
Uman (1920)                           25300 (57,2)
Stanislaw (1931)                      24800 (51,0)
Rowno (1931)                         22700 (56,0)
Poltawa (1920)                        21800 (28,4)
Bobruisk (1923)                       21600 (39,7)
Brest Litowsk (1931)                21400 (44,2)
Grodno (1931)                        21200(43,0)
Pinsk (1931)                           20300 (63,6)
Winniza (1923)                        20200 (39,2)

Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion begann einer der Wunschträume Hitlers in Erfüllung zu gehen. Das Ende des Judentums. Litauische Organisationen wie die LAF (Litauische Aktivistische Front) wurden über den Angriffstermin informiert und sollten der Wehrmacht beim Einmarsch in Litauen helfen. Es kam zu einem antisowjetischen Aufstand, bei der sich litauische Freiwillige in ganz Litauen organisierten, Güter und Infrastruktur vor den abziehenden Sowjets schützten – (Adolfas Ramanauskas soll so einer Schutzeinheit angehört haben) oder, wie Skeptiker meinen, den Sowjets in den Rücken zu schießen.

Es kam aber auch überall in Litauen zu Übergriffen gegen vermeintliche Bolschewisten, die aber fast immer Juden waren. Die Sowjets waren auf der Flucht. Die Nationalsozialistische Gleichsetzung von Jude=Bolschewist wurde besonders von der LAF verinnerlicht. Beispielhaft ist die Jagd auf Juden (=Bolschewisten) in Kaunas an der Lietukis Garage, bei der Juden vor vielen Zuschauern (auch Frauen und deutschen Soldaten) erschlagen wurden.

Dazu einige Zeilen aus einem Feldpostbrief des Soldaten Heinrich Sandt an seine Frau:

"Während ich meine Schritte diesem Platz zu lenkte, hörte ich schon von weitem ein Geschrei und Gestöhne, ein Lachen und Johlen, ein Fluchen und Kreischen. Da sah ich, wie Eisenstangen, Gewehrkolben, lange Holzknüppel u. andere Gegenstände mit Macht nach unten sausten, so als man mit Wut und Ingrimm auf irgend etwas nieder schlug. Und richtig. Die Juden waren hier zusammen getrieben und wurden einfach niedergeschlagenEs war ein Bild, das in seiner Schauderhaftigkeit und Grausamkeit nicht übertroffen werden konnte. 

Kaunas Pogrome Vytautas Prospect 1941

Originalbild des Briefes vom Soldaten Sandt (jetzt YadVashem)

Daher will ich Dir keine Einzelheiten hierüber schreiben. Des Abends feierte die ... [AK: unleserlich] Volksseele ein Volksfest auf den Leichen der erschlagenen Juden. Ein Akkordeon spielte und johlend und schreiend tanzte der Mob auf den Leichen umher. Die Frauen waren die Schlimmsten. Sogar hochschwangere Frauen ergötzten sich leidenschaftlich an diesem Totentanz. Jetzt hat die Feldgendarmerie eingegriffen. Die Juden wurden hinfort humaner behandelt, d.h. sie wurden nach wie vor in Waffen zu Hunderten zusammengetrieben und dann erschossen; vorher aber müssen sie ihr Grab geschaufelt haben. So grausam kann eben nur der Slawe [sic!] sein."

Vielleicht war das Lietukis Massaker von den Deutschen angezettelt. Genau weiß man das nicht. Es kam ihnen aber entgegen und sie haben es nicht verhindert.

Die litauischen Partisanen, die sich von den Deutschen eine Befreiung vom sowjetischen Joch und einen eigenen Staat erhofft hatten, wurden entwaffnet und als Hilfskräfte in der Partisanenbekämpfung eingesetzt. Da ja jeder Jude ein Bolschewist war, galt es alle Juden auszuschalten. Man begann (die Wannseekonferenz lag noch in weiter Ferne!) zuerst die jüdischen Männer zu ermorden, bald folgten Frauen und Kinder.

 

Somit begann der Holocaust...auf litauischem Boden.

 

 

Götz Aly beschreibt eine der vielen überall in Litauen erfolgten Ermordungsaktionen  beispielhaft mit einem Einsatz des "Rollkommando Joachim Hamann in Rokiskis wie folgt:

"Den Kern des Rollkommandos bildeten neben einigen fallweise hinzugezogenen Deutschen litauische Hilfspolizisten, die zuvor zum Teil antisowjetischen Partisaneneinheiten angehört hatten. Über die unter deutschem Kommando ausgeführte Massenerschießung heißt es im abschließenden Bericht: "In Rokiskis waren 3208 Menschen 4,5 Kilometer zu transportieren, bevor sie liquidiert werden konnten. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, mussten von 80 zur Verfügung stehenden litauischen Partisanen (Hilfspolizisten) über 60 zum Transport beziehungsweise zur Absperrung eingeteilt werden. Der verbleibende Rest, der immer wieder abgelöst wurde, hatte zusammen mit meinen Männern die Arbeit zu verrichten." Mit Arbeit war die Erschießung der Juden gemeint.

Hamanns Kommando verübte an 45 Tagen 62 Erschießungsaktionen und ermordete dabei 52.922 Menschen, fast alles Juden.

Insgesamt beteiligten sich laut dem Historiker Alfredas Ruksenas 6.000 Litauer direkt an den Judenerschießungen.

Vom staatlichen litauischen Vilnius Gaon Museum (dem jüdischen Museum von Vilnius, siehe Litauen Geschichte) gibt es eine interaktive Karte von allen Massakerorten in Litauen. Beispielhaft sei hier die Erschießung der Juden von Birzai genannt:

“On August 8, 1941, the Jews of Biržai were killed en masse. On the eve of the massacre, prisoners from Biržai prison and Jews dug 2 large pits in Astravas grove (3 kilometers from Biržai). On the day of the massacre a former lawyer from Pasvalys, then a representative of the Gestapo of Šiauliai, Petras Požėla arrived in Biržai with a number of German security police and SD officers. The Jews were told to gather in the synagogue. All precious jewelry was taken from them. Then white armbanders took people in groups of 100–200 to the Astravas grove where they were shot. The massacre lasted from 11 A.M. to 7 P.M. On that day all Biržai Jews were shot. According to data from a Soviet Special Commission, in all about 2.400 Jews were killed (900 children under 14, 780 women and 720 men). The massacre was carried out by Gestapo officers, Linkuva white armbanders (about 30 people) and Biržai white armbanders and policemen (about 50 people).”

Oder bei Christoph Dieckmann S. 813:

"Am 8. August 1941 ermordeten unter der Leitung des Rechtsanwalts und späteren Gebietsrats Pozela litauische Polizisten aus Siauliai, 30 Aufständische aus Linkuva, 50 Polizisten und Aufständische aus Birzai 900 jüdische Kinder, 780 Jüdinnen und 720 Juden im Wald Astravas, 3,5 km nördlich des Städtchens. Die 2.500 Opfer waren am 26. Juli 1941 in ein Ghetto in der Stadt gesperrt worden.
Das Kriegsende erlebten nur drei Juden aus dem Amtsbezirk Pasvalys.
Insgesamt starben im Kreis Birzai über 5.600 Juden, über 200 Litauer und 27 Russen."

Private Bereicherung nach den Erschiessungen war bei manchem Litauer verpönt. So wurde der oben genannte Rechtsanwalt Požela von Staatsanwalt Krygeris angezeigt, weil Požela 300.000 Rubel und zwei Koffer mit Gold und Silber nicht registriert hatte. (Dieckmann S. 864)

Interessant im englischen Text die Aussage, dass der Gestapo Repräsentant von Siauliai (ein Litauer) mit ein paar Deutschen in Birzai ankommt. Dreissig Weissarmbändler (die Aufständigen gegen die Sowjets am Tag des deutschen Einmarsches in Litauen trugen weiße Armbinden als Erkennungszeichen) aus Linkuva und Weißarmbändler aus Birzai halfen den Deutschen.

Laut Auskunft eines der Projektteilnehmer des Holocaustkartenprojektes waren höchstens zehn Deutsche dabei. Gewöhnlich waren es nur drei. Also drei bis zehn Deutsche und achtzig Litauer. Wer waren die litauischen Teilnehmer an diesen Erschiessungen? Was machten sie, als die Deutschen Litauen verlassen mussten? Dazu Dieckmann:

Was "... in den Kreisen Birzai mit den sehr frühen Morden und Zarasai, wo es augenscheinlich keine Ghettoisierung gab, geschah, erscheint nur noch in Ansätzen rekonstruierbar. Ebenfalls reichen die wenigen verfügbaren Quellen und Erinnerungen nicht aus um die Perspektive der verfolgten Juden mehr als nur anzudeuten. Es gab in dieser Region – wie fast überall in der litauischen Provinz – schlicht keine Zeit, um Tagebuch zu führen oder andere Dokumente zu hinterlassen. Ganz ohne Zweifel war die Situation der Juden hier ausweglos, und nur wenige konnten fliehen. Noch weniger konnten in diesem Umfeld überleben."

[Noch einmal in aller Deutlichkeit: es geht nicht um die Leugnung der deutschen Schuld. Der litauische Holocaust ist vollständig von den Deutschen zu verantworten. Ohne den Einmarsch der Wehrmacht würden die litauischen Juden noch leben. Es geht mir lediglich darum der litauischen Tendenz zu begegnen, jegliche Beteiligung zu leugnen und sich nur als Opfer zu sehen (der berühmte doppelte Genozid).]

Birzai Sela Museum Judenmörder

 Sela Museum Birzai

Die alte Ausstellung im Sela Heimatmuseum in Birzai. Hier waren noch bekannte Mörder an den litauischen Juden auf Bildern zu sehen. Geachtete Birzaier Bürger. Mittlerweile sind die Bilder zu meinem Leidwesen abgehängt.

Auf der rechten Seite im abgebildeten Ausstellungsraum hingen die Bilder der nach Sibirien deportierten Litauer. Auch heute werden die Juden noch manchmal für die von der Sowjetunion durchgeführten schrecklichen Deportationen nach Sibirien verantwortlich gemacht. (Dalia Grinkeviciute beschreibt den Schrecken sehr eindrucksvoll.) 

 

877 Litauer tragen den Titel "Gerechter unter den Völkern" im Vergleich zu 569 Deutschen! Allerdings war es für die Retter manchmal besser, falls sie die deutsche Besatzung überlebten, ihren Nachbarn nichts darüber zu verraten, dass sie Juden geholfen hatten. Aly S. 334

 

 

Von den 240.000 litauischen Juden haben die deutsche Besatzung nur diejenigen überlebt, die entweder vorher von den Sowjets deportiert wurden (wie Grinkeviciute schreibt und die Historiker immer wieder betonen, sind auch überproportional viele Juden 1941 nach Sibirien deportiert worden) – oder die sich in Litauen versteckten bzw. als Partisanen kämpften. So überlebten etwa 20.000 Menschen.

Viele der Überlebenden haben nach dem Tod Stalins die Lockerung der Auswanderungspolitik genutzt und sind in die USA und Israel ausgereist. 

 

 

Am Schluss zwei Gedanken:

-Wie würde Litauen heute aussehen, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte? Hätten Juden (Marianna Butenschön beschreibt sie als städtisch-jüdisches Element) und Litauer es gemeinsam geschafft, Litauen zu einem entwickelten modernen Industriestaat zu machen?

-Was würden die Litauer heute darüber denken, wenn es in "ihrem" Land eine große "klar abgrenzbare, anders sprechende, sich anders verhaltende, andersgläubige Menschengruppe" [Aly S. 364)  geben würde?

Interessante und heikle Fragen.

 

Mit dem Einmarsch der Deutschen hatte das Judentum in Litauen praktisch aufgehört zu existieren.

 

Juden heute 

Heute gibt es wieder positive Ansätze die jüdische Gemeinschaft in Litauen zu beleben. Die große Choral Synagoge lädt zum Gottesdienst und zum Besuch ein. Es gibt viele Bestrebungen das gemeinsame schwere Erbe aufzuarbeiten. Private Organisationen wie DefendingHistory kämpfen gegen das Vergessen, der aus Oxford stammende Professer Dovid Katz bietet seit 1998 jiddisch Kurse an und 2001 wurde das Vilnius Yiddish Institute gegründet.

Und es gibt sogar eine Ryanair Verbindung zwischen Vilnius und Tel Aviv. 

 

Wird fortgesetzt.

Zurueck

 

 

Dieser Text wurde von einem Nicht-Historiker geschrieben. Wenn Sie eine Ungenauigkeit feststellen, schicken Sie bitte eine Mail. Eventuelle Fehler werden sofort ausgebessert. Gerne können Sie auch kommentieren!

Quellen:

Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945

Wikipedia "Juden in Russland" "Gaon von Wilna"

Christop Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944 Band 1-2

Saulius Suziedelis "Lithuanian Collaboration during the Second World War" in "Kollaboration in Nordosteuropa"

Raul Hilberg "Die Vernichtung der europäischen Juden 1-3"

Karen Sutton "The Massacre of the Jews of Lithuania"

Marianna Butenschön "Litauen"

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