Feldpostbrief vom 29.6.1941

 

English translation

 

Im Jahre 2016 tauchte ein Feldpostbrief von einem Soldaten einer Versorgungseinheit der 10. Kompanie des Infanterie-Regiments 89 (später Grenadier Regiment 89) auf.

Der Soldat Heinrich Sandt, geboren am 30.7.1908, schreibt in diesem Brief an seine Frau Elisabeth über die Geschehnisse in Kowno (Kaunas) im Juni 1941. Bekanntlich wütete ein Teil der litauischen Volksseele gegen ihre mutmaßlichen Peiniger: Kommunisten und Juden. Sandt erreichte als Mitglied des Gepäcktrosses des 89. Infanterie-Regiments die ehemalige litauische Hauptstadt. Das 89. IR scheint am 25. Juni 1941 die Memel überquert zu haben und blieb 10 km östlich von Kaunas stehen. Am nächsten Tag ging es weiter nach Osten (die kämpfenden Einheiten). Sandt schrieb an seine Frau am 29.Juni 1941, der Brief wurde auch an diesem Tag abgestempelt.

 

Die ca. 500 Briefe von Heinrich Sandt wurden von seinem Sohn aufbewahrt und das heute schwer lesbare Altdeutsch mit dem Computer abgetippt. Kurz vor seinem Tod übergab der Sohn die gesamten Familienunterlagen an seinen Bekannten Chris Steinbrecher aus Bremen. Der Kunsthistoriker (der sich für das Projekt 3.000 Schicksale Theresienstadt/Riga engagiert) digitalisierte den kompletten Nachlass. Ich habe ihn besucht und die gesamten Briefe gesehen. Bis ein Gutachter die Briefe untersucht hat, müssen die geschilderten Geschehnisse natürlich mit Vorsicht betrachtet werden. Für mich sahen die Briefe allerdings echt aus. Auch die geschilderten Familienstrukturen stimmen. Dass Frauen bei den Garagenmorden anwesend waren, kann man auf den vorhandenen Bildern auch eindeutig sehen.

Mittlerweile ist der Brief unterwegs nach Yad Vashem, der bedeutendsten Gedenkstätte über den Holocaust. Wieder ist durch Zufall ein Teil unserer Geschichte klarer geworden.

 

 Feldpostbrief Kowno Pogrome 1941

Feldpostbrief Heinrich Sandt 29.6.1941

 

O.U. den 29.VI. 41
Meine liebe Elisabeth!

Noch liegen wir mit dem gesamten Divisionsgepäcktroß in Kowno. Wie weit die Kompanien wo sind, weiß ich nicht. Für K. ist der Krieg jedenfalls vorbei. Sie ist über Nacht eine Etappenstadt geworden. Übrigens, heute soll Sonntag sein. Ich weiß es nicht. Nur soviel weiß ich, daß es augenblicklich regnet! Daher habe ich mich in den Fahrersitz des Wagens zurückgezogen. Die Schreibunterlage liegt auf dem Steuerrad und so geht es einiger maßen. -

Je weiter man nach dem Osten kommt, desto dreckiger und für unsere Begriffe abstoßend, werden die Städte. K. [AK: Kaunas] hat zwar einige schöne und breite Straßen mit modernen Prachtbauten. Aber es sieht alles so modern, so aus dem Boden gestampft, aus. Die moderne Sachlichkeit der Weltkriegszeit und der folgenden Jahre gibt dem Mittelpunkt der Stadt das Gepräge. Aber wehe, wenn Du von diesen Prachtstraßen abbiegst in die Nebengassen. Klein, z.T. ungepflastert, baufällige Holzhäuser von Schmutz stinkend. Man muß sich wirklich die Nase zuhalten. Dieser Schmutzgeruch verliert sich auch nicht in den großen Straßen. Dafür ist ganz K. in eine Dunstwolke gehüllt, die nach sämtlichen Lebensgewohnheiten und Unsauberkeiten des Ostens riecht. Wie man tief und erlöst beim Erreichen der Stadtgrenze aufatmet!

Meine erste Tätigkeit in K. war, Bier besorgen. Glücklicherweise war ich einer der ersten. Der Andrang wurde so stark, denn sämtliche Einheiten wollten Bier trinken, daß schließlich die Feldgendarmerie eingreifen mußte, um Ordnung zu schaffen. Die Brauerei gab für die Käufer Bier ohne Entgelt, dort zu trinken, aus, und die Landser machten dann reichlich Gebrauch. Dazu kamen die Weiber, die in der Fabrik arbeiteten. Sie waren sehr zugänglich und bald boten sich Bilder, die einfach nicht mehr geduldet werden konnten. Ja, das ist der Krieg. Nur gut, beim Kommiss herrscht immer noch der eiserne Besen, ohne den es einfach nicht geht. Am Nachmittag fuhr ich wieder nach Kowno hinein. Das Bild wurde belebter. Der litauische Selbstschutz und die Weißrussen jagten auf Lastwagen durch die Stadt und machten Jagd auf die Juden. Vor einem Friedhof, der auf der einen Seite der Straße lag und einer Garage auf der anderen Seite, war eine große Menschenmasse versammelt. Von weitem schon sah man die Erregung, mit der sie an den Geschehnissen teilnahm, die sich auf dem weiten Platz vor der Garage abspielten.

Während ich meine Schritte diesem Platz zu lenkte, hörte ich schon von weitem ein Geschrei und Gestöhne, ein Lachen und Johlen, ein Fluchen und Kreischen. Da sah ich, wie Eisenstangen, Gewehrkolben, lange Holzknüppel u. andere Gegenstände mit Macht nach unten sausten, so als man mit Wut und Ingrimm auf irgend etwas nieder schlug. Und richtig. Die Juden waren hier zusammen getrieben und wurden einfach niedergeschlagen. Es war ein Bild, das in seiner Schauderhaftigkeit und Grausamkeit nicht übertroffen werden konnte.

 

Kaunas Pogrome Vytautas Prospect 1941

Daher will ich Dir keine Einzelheiten hierüber schreiben. Des Abends feierte die ... [AK: unleserlich] Volksseele ein Volksfest auf den Leichen der erschlagenen Juden. Ein Akkordeon spielte und johlend und schreiend tanzte der Mob auf den Leichen umher. Die Frauen waren die Schlimmsten. Sogar hochschwangere Frauen ergötzten sich leidenschaftlich an diesem Totentanz. Jetzt hat die Feldgendarmerie eingegriffen. Die Juden wurden hinfort humaner behandelt, d.h. sie wurden nach wie vor in Waffen zu Hunderten zusammengetrieben und dann erschossen; vorher aber müssen sie ihr Grab geschaufelt haben. So grausam kann eben nur der Slawe sein.

Uns sind die Litauer natürlich sehr gewogen, haben wir sie doch von dem Terror der Roten befreit. Aber zu beißen haben sie auch nichts. Es ist alles rationalisiert bzw. formalisiert. Die Hauptfunktionäre, die all dieses Elend gebracht haben, sind vorzeitig geflüchtet. Gefaßt werden sie aber doch. Die großen Kessel, die wir gebildet haben, sind Todeskessel für alle die da drin sind. Du kannst Dir keine Vorstellung machen mit welchen Waffen solche Kessel umstellt sind. Geschütze in unüberschaubarer Zahl und dann immer hinein Onkel Otto. Gefangene werden nicht gemacht, so grausam ist hier der Krieg. –

Gleich kommen die ersten Sondermeldungen. Die will ich mir eben anhören. –  Die Erfolge sind gewaltig nicht wahr? Hast Du auch die S.- Meldung über die Panzerschlacht nördlich Kowno gehört?

Vor einigen Tagen ...

Herzlichen Gruß an Dich die Kinder u. alle
von Deinem Heinrich.

 

Kowno Massaker Feldpost 1941

Einer der ca. 500 Briefe von Heinrich Sandt

 

Heinrich Sandt SA 1933

Heinrich Sandt bei der Ausbildung in der SA Frühjahr 1933 (4. von rechts).

 

Die recht entspannte Art, wie der Soldat Sandt die Morde schildert ("Die Juden wurden hinfort humaner behandelt, d.h. sie wurden nach wie vor in Waffen zu Hunderten zusammengetrieben und dann erschossen ...) lässt sich vielleicht aus seiner Geschichte erklären. Er wurde am 15.4.1933 Mitglied der NSDAP und der SA. Sandt arbeitete als Lehrer für Deutsch und Geschichte. Er leistete seinen Wehrdienst 1939 ab, nahm am Polenfeldzug teil und war anschließend in Frankreich eingesetzt.

 

Heinrich Sandt hat sich auch für den Dienst bei der Feldpolizei und der Gestapo beworben, darüber gibt es aber keine weiteren Informationen. Er scheint versucht zu haben, sich durch Beziehungen vor dem Dienst in der kämpfenden Truppe zu drücken und landete bei dem Gepäcktross der 10. Kompanie des 89. IR. Deren Bierdurst haben wir diese Zeugenaussage über das Lietukis-Massaker zu verdanken.

 

Feldpostbriefe Litauen

Sandt schrieb etwa 500 Briefe an seine Frau Elisabeth.

 

 

Was ist das Besondere am Feldpostbrief des Heinrich Sandt?

Der bisher unbekannte Brief bestätigt einige kontrovers diskutierte Handlungen beim Lietukis-Pogrom. Schon der Fotograf Gunsilius (siehe Zeugenaussagen) sprach in seiner Aussage:

"Nachdem alle erschlagen waren, legte der Junge die Brechstange beiseite, holte sich eine Ziehharmonika, stellte sich auf den Berg der Leichen und spielte die litauische Nationalhymne. Die Melodie war mir unbekannt, und ich wurde von Umstehenden belehrt, daß es sich um die Nationalhymne handle. Das Verhalten der anwesenden Zivilpersonen (Frauen und Kinder) war unwahrscheinlich, denn nach jedem Erschlagenen fingen sie an zu klatschen, und bei Beginn des Spiels der Nationalhymne wurde gesungen und geklatscht. Es standen Frauen in der vordersten Reihe mit Kleinkindern auf den Armen, die den ganzen Vorgängen bis zum Ende beigewohnt haben."

 

Sandt bestätigt also das Verhalten der anwesenden Frauen, sowie das Spielen des Akkordeons.

 

[Diese Schilderung gibt es auch bei Mejer Yelin in seinem Buch Festung des Todes wo ein Weissarmbändler mit einem Akkordeon auf den Leichen Musik spielt.]  To be confirmed...

 

Interessant ist auch die Aussage, dass die Litauer und Weißrussen mit LKW Jagd auf Juden machten. Tatsächlich scheint sich der "litauische Selbstschutz" am Vytautas Prospekt immer neue Opfer gesucht zu haben. Dass Weißrussen an den Aktionen beteiligt waren, ist mir aber neu.

 

Es ist überflüssig darauf hinzuweisen: Natürlich wusste die Wehrmacht (hier stellvertretend Soldat Sandt) von den Verbrechen, die mit ihr oder hinter ihr verübt wurden.

 

 

Zurück