Das polnische Problem - umstrittenes Vilnius
Zugegeben, eine provokante Überschrift.
Vilnius (1919 bis 1939 poln. Wilno) war immer eine Vielvölkerstadt. Juden, Polen und Litauer waren hier heimisch und das macht den Charakter der Altstadt von Vilnius mit seinen verwinkelten engen Gassen aus (siehe dazu auch die Zitate weiter unten).
Durch die ehemals enge Verbindung zwischen Litauen und Polen leben viele Polen (oder polonisierte Litauer) in der Stadt. Um 1900 lebten in Wilna etwa 30 % Polen, 40 % Juden, 20 % Russen und 2 % Litauer.
Die Stadt wurde von Litauen und Polen beansprucht und noch heute klagen die polnischen Einwohner über Diskriminierungen. In der "Dekade der Gewalt" 1939-1949 wurde die Stadtbevölkerung beinahe komplett, nämlich zu 90 %, ausgetauscht. (Tauber und Tuchtenhagen: Vilnius, kleine Geschichte der Stadt)
Warum war Vilnius umkämpft? Ein kurzer Klärungsversuch.
Litauen wurde 300 bis 200 Jahre vor Christus von baltischen Stämmen besiedelt. Der Name Litauen taucht in schriftlichen Quellen
aus dem Jahre 1009 auf. Als offizielle Staatsgründung gilt aber das Jahr 1253.
Der litauische Großfürst Mindaugas bekämpft die deutschen Kreuzritter, die sich zu dieser Zeit in litauischen Gebieten
ansiedeln und die heidnischen litauischen Stämme christianisieren wollen.
Mindaugas lässt sich taufen, um von der katholischen Kirche anerkannt zu werden. Damit erreicht er den Frieden mit den
Kreuzrittern und erhält den Titel eines Königs des Heiligen Römischen Reiches.
Diese Krönung wird von Historikern als Beginn des Großfürstentums Litauen angesehen. Nach Mindaugas Tod konnte Litauen sich
unter Algirdas und Kestutis bis zum Schwarzen Meer ausbreiten und war damals die beherrschende Kraft Osteuropas.
Jogaila Hedwig von Anjou
1385 schloss Litauen mit Polen eine Allianz (Vertrag von Krewo) indem sich Jogaila (Sohn des Algirdas) mit Jadwiga Andegawenska
(Hedwig von Anjou, Enkelin des verstorbenen polnischen Königs Kasimir) vermählte und als König Wladyslaw II. Jagiello den
polnischen Thron bestieg.
Lange Rede, kurzer Sinn: das Bündnis zwischen dem kleinen Litauen und dem viel größeren Polen wurde immer enger und mündete im Jahre 1569 (nach Schwächungen Litauens u.a. im Livländischen Krieg) in der Realunion von Lublin. Das einst mächtige Litauen war nun Teil Polens.
Trotz anfänglicher Privilegien wurde der litauische Adel schnell polnisiert. Polnisch wurde immer mehr vom Klerus (meist sowieso aus Polen kommend) und dem Adel gesprochen.
Im 18. Jahrhundert geriet Polen/Litauen auf den Wunschzettel der nun mächtigen europäischen Staaten: Russland, Preußen und Österreich und es erfolgten drei Teilungen von Polen.
1772 erweiterte Russland sich um einen Landstreifen von Daugavpils (Dünaburg) bis fast nach Kiev. Österreich bekam Südpolen, Preußen bekam Land von der Reichsgrenze bis nach Elbing (dort ist die Marienburg, schönes Reiseziel!).
1793 kam es zur zweiten polnischen Teilung. Russland nahm sich Weißrussland und die Ukraine, Preußen ein Stück von Polen
südlich der ersten Beute.
1795 erfolgte die dritte polnische Teilung. Russland bekam Litauen bis Palanga und den Rest von Weißrussland und die Ukraine.
Preußen nahm sich Territorium um Kleinlitauen.
Litauen wurde also komplett (außer Kleinlitauen) Bestandteil des Russischen Reiches und blieb es, trotz einiger Aufstände, bis zum Ende des I. Weltkriegs.
1915 besetzte das Deutsche Reich Litauen und fasste es unter General Ludendorff zum Verwaltungsgebiet "Ober-Ost" zusammen.
Nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte, versuchte man Litauen in die Unabhängigkeit zu entlassen, allerdings als Satellit des Deutschen Reiches.
Die Litauer wollten aber nicht so wie die Deutschen. Sie erklärten sich im Dezember 1917 für unabhängig (mit Bindung ans Deutsche Reich) und im Januar, als Deutschland Litauens Anerkennung verzögerte, für komplett unabhängig.
Und das blieben sie auch, meist mit Antanas Smetona als Präsident, bis der unselige Hitler-Stalin Pakt Europa wieder auf die Hölle vorbereitete.
Josef Pilsudski
Neben Litauen nahmen auch Finnland, Lettland, Estland, die Tschechoslowakei und auch Polen die Gelegenheit nach dem ersten Weltkrieg wahr und erklärten ihre Unabhängigkeit. Polens Unabhängigkeit mit Grenzverlauf zur Curzon-Linie wurde in den Pariser Vorortverträgen von Deutschland und Österreich anerkannt.
Die Curzon-Linie vermied es zu viele Nichtpolen unter polnische Herrschaft zu stellen. Allerdings blieben Gebiete mit polnischer Bevölkerungsmajorität außerhalb dieser Grenze. In unserem Beispiel das Gebiet von Polen bis nach Vilnius.
Anstatt den Frieden zu bewahren, kam Polen unter Jozef Pilsudski (Chef der polnischen Streitkräfte und Staatspräsident, hier ein tabellarischer Lebenslauf von Dikigoros [Anmerkung zu Dikigoros siehe unter Weblinks link ist zur Zeit weg]) auf die Idee, die schwierige Lage Russlands (Bürgerkrieg zwischen der Weissen Armee (den Zaristen) und den Bolschewiki) auszunutzen und die eigene Position gegenüber Preußen, Österreich und Russland (also den Verantwortlichen für Polens Teilungen) zu stärken.
Als historisches Vorbild schwebte Pilsudski ein Staatengebilde vor, wie die polnische-litauische Realunion, mit Weißrussland und der Ukraine als Puffer gegen ein erstarkendes Russland.
1918 sagte er zu einer litauischen Delegation, dass er auch nichts gegen einen unabhängigen litauischen Staat hätte. Er forderte allerdings, dass die Litauer ihre Ansprüche auf das ethnographische Litauen beschränkten, weil zum historischen Litauen unzweifelhaft polnische Gebiete gehörten. (P.Lossowski Das Wilna Problem, Pilsudksi Gesammelte Werke)
Etwas weiter im Osten war man mit dem Verlauf der Geschichte auch nicht zufrieden.
Lenin ahnte, zu Recht, dass Russland als einziges kommunistisches Land nicht überleben konnte und wollte der Weltrevolution nachhelfen, die von Russland aus (über Polen) auf die westlichen Industrienationen übergreifen sollte.
Aus einem Grenzkonflikt (Winston Churchill spottete: " Der Krieg der Giganten ist zu Ende, der Hader der Pygmäen hat begonnen")
entwickelte sich somit der "Polnisch-Sowjetische Krieg" (1919 bis 1921).
Polen und Russland (das weiterhin im Bürgerkrieg mit den Weissen-Armeen war) begannen Kämpfe in der Ukraine und an der Memel. Der Konflikt (Trotzki warnte: "Gegen uns operiert zum ersten Mal eine reguläre Armee, die von guten Technikern geführt wird") kostete beide Seiten ca. 630.000 Tote.
Mal hatten die Polen mehr Glück, mal die Sowjets. Kiev und Wilna wechselten mehrfach die Besitzer.
Am 1. August 1920 eroberte die Rote Armee Brest-Litowsk und standen somit nur noch 100 km vor Warschau. Je weiter die Russen unter General Tuchatschewski ins polnische Kernland eindrangen, umso motivierter waren die Polen ihr Land zu verteidigen.
Außerdem kam die Rote Armee unter Jegorow, die in der Ukraine stand Tuchatschewski nicht zu Hilfe, sondern ihr wurde der Angriff auf Lwow (Westukraine) befohlen.
Pilsudski griff die Russen mit einer Zangenbewegung von zwei Seiten an und fügte der Roten Armee schwere Verluste zu.
Diese Verteidigung der polnischen Hauptstadt ging als "Wunder an der Weichsel" in die Geschichte ein.
Die polnischen Truppen nutzten die Gunst der Stunde und rückten im Oktober 1920 in Minsk und (entgegen vorher geschlossener Verträge durch einen Trick) in Pidulskis Heimatstadt Vilnius ein.
Der Kommandeur der in Vilnius einmarschierenden Einheit, Lucjan Zeligowski, proklamierte einen neuen Staat mit dem Namen Mittellitauen. Dieser wurde dann 1922 nach einer Volksabstimmung an Polen angeschlossen.
Da die Polen sich von einem weiteren Krieg im Winter nichts versprachen und die Sowjets wirtschaftlich am Boden waren, kam es im September 1920 zu Friedensgesprächen in Lettlands Hauptstadt Riga, die im März 1921 als "Friede von Riga" formell besiegelt wurden.
Polen hatte sein Staatsgebiet damit ordentlich nach Osten vergrössert und ist seinem Ziel, die Staatsgrenzen von vor der "Ersten Polnischen Teilung" wieder herzustellen, ein gutes Stück näher gekommen.
Natürlich waren die Litauer, die ihrer historischen Hauptstadt verlustig gegangen sind, das Gegenteil von begeistert. Als Hauptstadt diente nun Kaunas. Der Verlust von Vilnius kann man ebenso wie die Deportationen durch die Sowjets 1941 als "Litauisches Trauma" bezeichnen.
Vilnius kam durch die geheimen Zusatzprotokolle des Molotow-Ribbentrop Vertrages an Litauen
Auch die Sowjetunion konnte die Schmach nicht vergessen und handelte 1939 im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts die Übernahme der 1920 von Polen eroberten Gebiete (u.a. Vilnius) mit Hitler-Deutschland aus. Stalin übergab das Gebiet (immerhin 7.100 Quadratkilometer und 457.500 Menschen) dann im Oktober 1939 großzügig an Litauen und bekam dafür Stützpunkte für die Rote Armee (Bloodlands, T. Snyder S.202). Litauen war happy, bis es von Stalin im Juni 1940 besetzt wurde.
Denkmal in Kernave : Hallo Welt! Ohne Vilnius werden wir niemals ruhig sein.
Die gewaltsame Einnahme von Vilnius durch Polen entgegen bestehender Verträge und der hohe polnische Bevölkerungsanteil im Gebiet von Vilnius ist für Litauen das "Polnische Problem".
Beide Seiten kann man verstehen. Vilnius Reiz besteht aus der kulturellen Vielfalt - aus der Vergangenheit (die große jüdische Kultur besteht fast nur noch in architektonischer Erinnerung) und Gegenwart - mit Russen, Polen, Weißrussen und Litauern.
Hardliner auf beiden Seiten gönnt man keinen Erfolg, im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens.
Als die Litauer in einem Referendum 1991 über ihre Unabhängigkeit abstimmten, machten gleichzeitig viele Polen an einer sowjetischen Abstimmung über das Fortbestehen der UdSSR mit. Als sogar eine Rote Fahne vor einem Rathaus im polnisch besiedelten Salcininkai gehisst wurde (gerade während des Moskauer Putsches in Vilnius), hatten die Litauer den Papp auf und setzten die polnischen Lokalpolitiker ab.
Mittlerweile sollen die Polen zugeben, dass sie sich von Warschau haben aufhetzen lassen, in der Hoffnung, die polnisch besiedelten Gebiete Polen zuschlagen zu können. (Spiegel 8.6.1992)
Ein sehr ausführlicher Bericht über den Minderheitenschutz in Litauen stammt von Carmen Schmidt von der Uni Köln Litauen
Zu den Spannungen zwischen Warschau und Vilnius Warschau-Vilnius
Die Vielvölkerstadt Vilnius vor dem Zweiten Weltkrieg
Ausschnitt aus einem Brief von Czeslaw Milosz (litauisch-polnisch-amerikanischer Dichter *1911 im litauischen Sateiniai) an den litauischen Dichter und Literaturkritiker Tomas Venclova (*1937), beide emigriert in die USA. Hier geht es um die Ansichten des polnischen Vilniuser Milosz an den litauischen Vilniuser Venclova.
Lieber Tomas,
Zwei Dichter, Litauer der eine, Pole der andere, sind in der gleichen Stadt aufgewachsen. Das dürfte eigentlich Grund sein, daß sie über ihre Stadt sprechen, und das sogar öffentlich. Zwar gehörte die Stadt, die ich kannte, zu Polen, hieß Wilno, und auf den Schulen und in der Universität wurde polnisch gesprochen: Deine Stadt war die Hauptstadt der Litauischen SSR [A.K.: Sozialistischen Sowjet Republik], hieß Vilnius, und Du hast die Schule und Universität in einer anderen Epoche, nach dem Zweiten Weltkrieg besucht.
Dennoch ist es ein und dieselbe Stadt, und ihre Architektur, die Landschaften ihrer Umgebung und ihr Himmel haben uns beide geformt. Gewisse, sozusagen tellurische [A.K.: die Erde betreffend] Einflüsse sind nicht auszuschließen. Außerdem habe ich den Eindruck, daß Städte ihren Geist und ihre Aura haben, und manchmal, wenn ich die Straßen von Wilna entlanggegangen bin, kam es mir so vor, spürte ich diese Aura auf beinahe sinnliche Weise.
(...)
Im 20. Jahrhundert war das Programm der polnischen Nationalisten für die ethnisch nichtpolnischen Gebiete dumm, da Wilna oder Lemberg [A.K.: heimliche Hauptstadt der Ukraine] Enklaven waren.Ich denke, daß es jungen Leuten heute recht schwer fällt, diesen Enklaven-Charakter des Vorkriegs-Wilna zu verstehen: das war weder Polen noch Nicht-Polen, weder Litauen noch Nicht - Litauen, weder Provinz noch Hauptstadt, obwohl doch vor allem Provinz.
Und natürlich war Wilna, wie ich es aus der Perspektive sehe, absonderlich, eine Stadt mit vermischten, einander überlappenden Gebieten wie Triest oder Czernowitz.
Dort aufgewachsen war nicht das gleiche wie in ethnisch einheitlichen Gebieten aufzuwachsen. Die Sprache selbst wurde anders empfunden. Es gab keinen volkstümlichenstädtischen oder dörflichen Dialekt mit rein polnischen Wurzeln, es gab die "hiesige" lustig wirkende Sprache, die vielleicht dem Geist der weißrussischen näher war als dem der polnischen, obwohl sie freilich viele polnische Worte bewahrt hatte, die im 16. und 17. Jahrhundert üblich, in Polen jedoch aus dem Sprachgebrauch verschwunden waren. Die Grenze zwischen der "hiesigen" Sprache und der Sprache der adligen Gemeinde (die Mickiewicz sowohl in der Kindheit als auch später in Paris mit dem inneren Ohr hörte) war natürlich fließend, genauso wie die zwischen der Sprache des Kleinadels und der des Hofes oder auch der vom Hof kommenden Intelligenz. All das war jedoch dem polnischen Bauern-Dialekt wirklich fremd.
In der "hiesigen" Sprache sprach das Proletariat von Wilna, sie hatte keine Ähnlichkeit mit der Warschauer Volkssprache, wo sich wahrscheinlich ein gewisses bäuerliches Substrat erhalten hat. Für mich ist zum Beispiel ein Dichter wie Miron
Bialoszewski exotisch. Diese Sprachquellen habe ich nicht. Ich riskiere die Feststellung, daß unsere Sprache empfänglicher war für Korrektheit und auch für rhythmische Prägnanz, deshalb empfinde ich das klare Polnisch der Dichter des 18. Jahrhunderts wie Krasicki oder Trembecki als "das meine". Es ist schwierig, das zu analysieren. Was mich betrifft, so würde ich sagen, meine Sprache wurde davon beeinflußt, daß ich der Versuchung der ostslwischen Sprachen, in erster Linie des Russischen, widerstanden und ein Register gesucht habe, in dem ich - in Bezug auf die rhytmische Modulation - mit den ostslawischen Elementen wetteifern konnte.
Ich weiß nicht, wie sich der Widerstand gegen das Russische auf Dein Litauisch ausgewirkt hat. Ich weiß, daß es für mich und für jeden, der ein empfindsames Ohr für das Russische hat, schädlich ist, dem starken Beat des russischen Jambus
nachzugeben, und daß dies nicht die Hauptrichtung des Polnischen ist.
Der Provinzcharakter Wilnas. Er hat mich bedrückt, und ich habe mich danach gesehnt, in die Welt zu entfliehen. Deshalb ist es nicht nötig, einen Mythos von der geliebten Stadt zu schaffen, wenn ich es dort kaum noch aushalten konnte, und - als der damalige Wojewode [A.K.: Chef der Verwaltung], Bocianski, vom Polnischen Rundfunk in Wilna forderte, mich als politisch verdächtigen zu entlassen - die infolgedessen zwangsweise Abreise nach Warschau mit Erleichterung aufnahm.
Denn Wilna war ein Kaff, eine unvorstellbar enge Basis, wenn Du die jiddisch oder russisch sprechenden und lesenden Juden abrechnest und die "hiesige" Bevölkerung, die gar nicht las. Was blieb über? Etwas Intelligenz adliger Herkunft, im allgemeinen ziemlich stupide.
Und damit ist die Nationalitätenfrage verbunden. Denn wenn wir uns für Litauer gehalten hätten, wäre Wilna unsere Hauptstadt und unser Zentrum gewesen. Ein sehr schwieriges Problem, wie Du weißt. Logisch wäre die finnische Lösung. Ich kenne diese Probleme nicht näher. Ich weiß nicht, wie das die Finnen aus schwedischsprechenden Familien gelöst haben, aber Helsinki war wohl ihr Zentrum und nicht Stockholm. Grundsätzlich hätten wir uns für Litauer mit polnischer Muttersprache halten müssen - und
Mickiewisz "Litauen, du meine Heimat"
unter neuen Bedingungen fortsetzen, was bedeutet hätte, litauische Literatur in polnischer Sprache zu schaffen als Parallele zur litauischen Literatur in litauischer Sprache. Doch das wollte niemand - weder die Litauer, die sich fest gegen die
polnische Kultur als eine ihre eigene Kultur gefährdende sträubten, noch all diejenigen, die polnisch sprachen, sich selbst einfach als Polen ansahen und ein verächtliches Verhalten gegenüber den "Klausiuks", dem Volk der Bauern, an den Tag legten.
Es gab nicht viele Kreise, die anders dachten, dafür aber interessante und wertvolle und energische. In meinem Wilno waren es die sogenannten "krajowcy" (Vertreter der Heimatidee), die von der Bewahrung der Traditionen des Großfürstentum Litauen als einzigem Gegengewicht zu Russland träumten, das heißt, von einer Förderation der Völker, die einst zum Großfürstentum gehört hatten. Diese Kreise deckten sich mehr oder weniger mit denen der Freimaurer in Wilna. Die Geschichte dieser eigentümlichen Ideologie müßte irgendwann einmal geschrieben werden, doch wenn ich sage, daß das interessant, ja sogar fszinierend ist, so sage ich das jetzt, ex post, denn als junger Mensch mit allen avantgardistischen Neigungen, der sich mit moderner Poesie, der französischen Intellektuellen-Bewegung usw. beschäftigte, habe ich dem, was in der Stadt vorging, keine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Im übrigen war das eine schon damals verlorene Bewegung, die letzten Nachklänge. Von litauischer Seite konnte sie noch nicht einmal mit einer Spur von Sympathie rechnen, weil sie als Verlängerung der "jagiellonischen Idee" [A.K.: litauisch- polnische Realunion unter Jagiello] empfunden wurde. Und zweifellos verbarg sich bei vielen gebürtigen Krautjunkern [A.K.: Großgrundbesitzer] hinter der sentimentalen Verbundenheit mit der Idee des Großfürstentums der Traum von der Vorherrschaft.
Ungeachtet dessen waren Ludwik Abramowicz und ein paar andere Vertreter der Heimatidee tiefgründige und ehrliche Menschen in ihrem Widerstand gegen den polnischen Nationalismus. Das waren die Erben des umfassenden Denkens, in der Art der Aufkärer der einstigen Republik des 18. Jahrhunderts. Ich denke nicht, daß es auf litauischer Seite irgendeine Entsprechung gegeben hat - dort war mehr oder weniger alles ein neuer, zwangsläufig spasmischer Nationalismus. So oder so waren die Vertreter der Heimatidee die einzigen unter den polnischsprechenden Wilnaern, die Wilna als Hauptstadt und nicht als Provinz betrachteten.
Ich denke heute, daß jeder, der es mit dieser Stadt gut meint, ihr den Hauptstadt-Status wünschen soll, was automatisch irgendwelche polnischen Ansprüche an ein "polnisches Wilna" ausschließt. (...)
Wichtig, wenn wir über Wilna sprechen, ist, daß es in beträchtlichem Maße eine jüdische Stadt war. Auf eine völlig andere Weise als Warschau. Das jüdische Viertel in Wilna war ein Labyrinth enger, ganz mittelalterlicher Gässchen, die Häuser durch Arkaden verbunden, das holprige Pflaster zwei, vielleicht drei Meter breit. In Warschau dagegen waren es Straßen mit scheußlichen Mietshäusern aus dem 19. Jahrhundert.
Das jüdische Elend fiel in Wilna weniger ins Auge, was nicht heißt, daß es das nicht gegeben hätte. Doch nicht darin besteht der Unterschied.
Gaon von Vilnius
Wilna war ein starkes jüdisches Kulturzentrum mit Traditionen. Ich erinnere daran, daß eben hier an der Basis der jüdischen Arbeiterschaft, die jiddisch sprach, vor dem Ersten Weltkrieg der "Bund" entstand. Seine Führer, Alter und Ehrlich, wurden später von Stalin erschossen. Wilna hatte ein jüdisches Historisches Institut, das dann nach New York verlegt wurde. Und ich denke, daß Wilna besonders zum Wiederaufleben der hebräischen Sprache in Israel beigetragen hat. Als jemand, der in dieser Stadt lebte, hätte ich eine bestimmte Kenntnis von dem erlangen müssen, doch dem standen die Sitten und Gebräuche entgegen.
Das jüdische und das nichtjüdische Wilna lebten getrennt voneinander. Beide bedienten sich auch in Wort und Schrift einer anderen Sprache. Als Student war ich sehr international eingestellt, was ziemlich oberflächlich war. Ich wußte nichts über die Geschichte der Juden in Polen und Litauen, über ihr religiöses Gedankengut, den jüdischen Mystizismus, die Kabbala.
Das sollte ich erst viel später, in Amerika, lernen. Das zeigt das Ausmaß der Trennung der beiden Gemeinschaften, denn was soll man über andere Städte im Vorkriegspolen sagen, wenn ich in einer solchen Nachbarschaft ein Ignorant geblieben bin. Soweit ich weiß, hat sich in Polen niemand gewagt vorzuschlagen, daß Hebräisch in den Schulen als eine der "klassischen" Sprachen unterrichtet wird, daß die intellektuelle Geschichte der polnischen Juden gelehrt oder zumindest das Alte Testament gelesen und kommentiert wird: er wäre gesteinigt worden. Und wenn mich auch der Haß der Juden auf die Polen, bei merkwürdiger Vergebungsbereitschaft gegenüber den Deutschen und Russen, sehr trifft und schmerzt, so muß ich zugeben, daß einem der kleinliche Antisemitismus - auf englisch würde ich petty, auf französisch mesquin sagen - genauso arg zusetzen kann wie ein Verbrechen, weil er etwas tägliches ist.
Quelle: Brief von C.Milosz an T.Venclova in M.Klecel "Polen zwischen Ost und West" (1995)
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