Mūsiškiai


"Our People"

Ruta Vanagaite und Efraim Zuroff (Litauen 2016, USA 2020)

"Ich möchte verstehen was passierte, warum es ihnen passierte und allen meinen Litauern. Meinen Litauern und meinen Juden in meinem Litauen. Und ich möchte das meine Kinder verstehen - wissen und sich erinnern." Ruta Vanagaite


Im Jahre 2020 ist die englische Ausgabe von "Mūsiškiai" (Die Unsrigen) endlich erschienen und ich konnte mir nun eine eigene Meinung von diesem in Litauen heiß diskutierten Buch bilden. Aus den Büchergeschäften in Litauen sind alle ihre Bücher verbannt worden, obwohl nur Mūsiškiai für Aufregung in konservativen Kreisen sorgte und ihre anderen Bestseller, unter anderem ein Buch, das von den Problemen reiferer Damen handelt, also vollkommen unpolitisch sind.

Und unpolitisch war Frau Vanagaite auch bisher; vom Holocaust in Litauen hat sie, wie viele ihrer Landsleute auch, nicht viel gewusst. Stolz war sie auf ihre Familiengeschichte, weil viele ihrer Vorfahren von den Sowjets nach Sibirien deportiert worden sind, nachdem ihr Opa Jonas Vanagas sich am antisowjetischen Aufstand von 1941 beteiligt hatte (zeitgleich mit dem deutschen Einmarsch). Bis sie in den Litauischen Spezialarchiven die Akten ihrer Familie las. Großvater Jonas Vanagas stellte Listen von Juden für die Deutschen zusammen. Ein Nachbar transportierte die Juden zu den Hinrichtungsstätten und ein geliebter Onkel, im unabhängigen Litauen Armeeoffizier, war unter der Nazibesatzung Polizeichef von Panevezys. Nicht schön.

Da Vanagaites Familiengeschichte kein Einzelfall war, beschloss Ruta diese bisher in der breiten Öffentlichkeit unbekannte litauische Geschichte aufzuarbeiten und tat sich mit den israelischen "Nazijäger" Efraim Zuroff zusammen. Der ist Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem und sucht weltweit Nazi Verbrecher. Teile von Zuroffs Familie stammen aus Litauen und wurden im Holocaust vernichtet. Seit der litauischen Unabhängigkeit besucht er das Land und hoffte auf Unterstützung bei der Suche nach Nazi Kollaborateuren. Die Freude der litauischen Politik war gering und er wurde für einige Politiker zum Roten Tuch.

Für dieses Buch trafen er und Ruta Vanagaite sich, um zusammen das Land Litauen zu bereisen und die unzähligen Hinrichtungsstätten zu besichtigen. Tatsächlich sieht der Litauen Besucher an allen möglichen Stellen Hinweisschilder auf jüdische Grabstellen. 227 Massengräber gibt es in Litauen.

Die Kooperation zwischen der Tochter litauischer Täter und Zuroff als jüdisches Opfer funktioniert auch recht gut. Mir gefällt nur nicht die theatralische Betonung der Feindschaft zwischen dem Israeli Zuroff und der Litauerin Vanagaite (Journey with the Enemy). Wahrscheinlich ist das der Tatsache geschuldigt, dass Mūsiškiai (Die Unsrigen) als Buch für die breite Masse gedacht ist, bei dem der Lese Stil interessant und vielleicht auch provokativ sein sollte. Aber natürlich sind die beiden keine Feinde.

An den unterschiedlichen Hinrichtungsorten, verteilt auf ganz Litauen, werden die Schicksale der Juden geschildert. Das ist manchmal schon ziemlich heftig. Besonders für den harten Zuroff, dessen Verwandte unter dem Rasen liegen könnten.

Für die konservativen Litauer ist aber viel heftiger, dass die beiden Autoren die Beteiligung der ethnischen Litauer an den Massenmorden thematisieren. Schon vor dem Einmarsch der Deutschen gab es Übergriffe auf die Juden. Danach stellten die einen Listen (Vanagaites Opa) über die örtlichen Juden zusammen, die anderen beteiligten sich in Litauen, aber auch in Belarus und in anderen Ländern an der Zusammentreibung, Bewachung, dem Transport und der Erschießung der Juden. Scheinbar sind die meisten Juden in Litauen von ethnischen Litauern erschossen worden. Natürlich unter deutscher Verantwortung, dass sollte nie vergessen werden (kein Holocaust ohne die Wehrmacht und deutsche Sonderkommandos), aber eben von litauischen Verbänden. Litauische Spezialeinheiten und die Arbeitsbataillone (TDA Tautinio darbo apsauga) deren Chef Bronius Norkus war. Im Militärmuseum in Kaunas ist ein TDA Mann in schwarzer Uniform ausgestellt. Natürlich auch im Jahr 2020 ohne Kommentar, dass es hier um ein Mitglied von Massenmörderverbänden handelt.


TDA Uniform Kaunas Militärmuseum

Vanagaites und Zuroffs Reise durch Litauen ist spannend zu lesen (von der Feind Terminologie mal abgesehen). Viele Schicksale die geschildert werden sind erschütternd. Viele Litauer sind gleichgültig, viele trauen sich aber auch nicht zu reden, oder wollen ihren Nachnamen nicht nennen. Kennen aber Details aus der Vergangenheit. Dass die Juden in der Lietukis Garage nicht mit einem Wasserschlauch aufgeblasen wurde, war mir (und Zuroff) neu (obwohl auf der Webseite des Vilna Gaon State Museum die Version des Tötens mit dem Wasserschlauch steht). Einiges, was die beiden in Litauen sahen und erlebten, hat der eine oder andere aufmerksame Litauen Besucher auch schon gesehen: da werden die 76 getöteten Litauer aus dem Gefängnis in Telsiai im Wald von Rainiai mit einer Kapelle geehrt. Die 800 ermordeten litauischen Juden haben einen kleinen Gedenkstein. Sie sind vergessen.

Telsiai und Rainiai.

Juden waren anders und nicht "Die Unsrigen" (Mūsiškiai) sagt uns das Buch. Zumindest in den Augen vieler ethnischer Litauer. Neid, Gier und blinder Gehorsam führten zu großer litauischer Unterstützung für die Nazi-Deutschen.

"Although there was, and is, a formal consensus that Jews were a part of Lithuania, this is not what ordinary people felt. For Lithuanians, the Jews were allways 'them'. " S. 218

Vanagaites Buch ist ein spannender Beitrag für ein breiteres Publikum über die deutsch-litauische Zusammenarbeit im Jahre 1941. Die geschilderten Fakten sind natürlich (bis auf Details, wie der Wasserschlauch im Lietukis Garagenhof) den interessierten Lesern weitgehendst bekannt. Es gibt unzählige Fachliteratur über den litauischen Holocaust. Das umfangreichste Werk stammt von Christoph Dieckmann und besteht in zwei Bänden aus 1652 Seiten!

Einige Bücher sind hier bei mir unter Bücher rezensiert.
Weitere Beispiele:
Schöne Zeiten- Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer
Verbrechen der Wehrmacht
Bücher von Alex Faitelson
Holocaust in Litauen
Götz Aly Europa gegen die Juden
Bitter Legacy
The Massacre of the Jews of Lithuania   Karen Sutton
A guest at the shooters Banquet
Sodaten Neitzel
Und viele weitere.

Ich habe heute mit einem litauischen Freund telefoniert. Arbeiter, kein Intellektueller. Er hat das Buch gelesen und meinte, alles bekannt. Ich fragte, warum haben sich die Litauer denn so darüber aufgeregt. Nur die Konservativen.

Nicht Vanagaites und Zuroffs Buch über die Beteiligung Litauens am deutschen Völkermord ist ein Ärgernis und eine Schande, sondern die litauische Reaktion der Nationalisten. Nicht das die litauische Aufregung etwas Besonderes sind. In Deutschland hatten wir das vor einigen Jahren mit der Wehrmachtaustsellung, bei der die Verbrechen unserer gar so sauberen Wehrmacht dargelegt wurde (768 Seiten) und es zu hasserfüllten Reaktionen kam.

Erbärmlich waren die boshaften litauischen Reaktionen. Der Mitinitiator der litauischen Unabhängigkeit und früherer Sajudis Chef Vytautas Landsbergis (sein Vater war Mitglied in der "Provisorischen Regierung" PG 1941) verglich Vanagaite mit dem KGB Mann Nachman Duschanski und empfahl ihr den Freitod.

Kennen Sie die litauische Theorie des "Doppelten Genozids"? Die Aufrechnung des von den Sowjets verursachten Leids ("das waren alles Juden") mit dem Mord an den litauischen Juden? Ein Grund mehr "Mūsiškiai" zu lesen.

Wie anfänglich gesagt, wurden Vanagaites kompletten Bücher vom Markt genommen.

Immer noch ist in Litauen umstritten, ob Nazi Kollaborateure öffentlich geehrt werden dürfen. Kazys Skirpa oder Juozas Krikstaponis sind so Beispiele. Auch Juozas Luksa (Partisanen).


Nun wollen wir nicht so tun, als ob wir auf dem hohen Ross sitzen. Auch in Deutschland ist die Geschichtsauffassung zwischen liberalen Demokraten und AfD Leuten ziemlich weit auseinander. Wobei ich (und Vanagaite und Zuroff machen das für Litauen in ihrem Buch klar) diese rechten Nationalisten eklig finde. Egal in welchem Land.

Für diejenigen, die sich erstmals mit diesem Thema beschäftigen: Kaufempfehlung. Klar!


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Eine Anmerkung in der Rezension von Katja Makhotina aus 2019 soll hier auch nicht fehlen:

Anmerkung vom Administrator, 30.8.2019

Auch drei Jahre nach Erscheinen der litauischen Ausgabe von "Die Unsrigen", beherrscht das Buch, bzw. die Intention der Verdasserin (die litauische Beteiligung am Holocaust zu thematisieren), weiterhin die Gemüter der Litauer.

Manchmal hat das komödiantische Züge, manchmal ist das aber auch furchtbar peinlich.

Zum Beispiel schrieb die Attachee an der litauischen Botschaft in Schweden,Živilė Etevičiūtė, an den schwedischen Verleger von "Die Unsrigen" einen kritischen Brief.

Dieser reagierte mit einem offenen Brief, den Ruta Vanagaite veröffentlichte. Ein Schelm, der dabei an eine Bananenrepublik denkt:

 

LETTER FROM THE SWEDISH PUBLISHER OF THE BOOK " OUR PEOPLE" TO THE CULTURAL ATTACHE OF THE REPUBLIC OF LITHUANIA

Dear Živilė Etevičiūtė

Thank you for your letter.

As a publisher, I am always interested to receive opinions about books I've published, even if I’m a little surprised to receive them from a representative of a foreign state. Anyway, your letter is fine for me.

From the perspective of the Lithuanian citizen and author Ruta Vanagaite, though, I find your letter troubling. It could be interpreted as that the Lithuanian state is supervising and interfering in what their citizens are doing and saying abroad.

I consider Vårt folk/Our People to be a serious work, well worth to be published, in Sweden and in other countries. That is also an opinion I share, both with the Nobel Prize Laureate, Svetlana Aleksijevitj, who has written a foreword to the book, and with the Swedish reviewers of the book. Vårt folk/Our People has been reviewed favourably in several papers in Sweden, for example in Aftonbladet, the largest daily in Scandinavia, and Göteborgs-Posten, the largest daily in Western Sweden. Having said that, a further debate about the important topic of Vårt folk/Our People could of course only be welcomed.

Regarding your claim, that there are 'many moments in the book' that 'do not meet the historical facts', I'd be happy to receive more details about those 'moments'. In general, though, I believe that the best way to handle such a discussion is in an open public debate where also dissenting views are heard. What constitutes a certain fact, especially in controversial issues, is not always clear and may change over time.

Regarding the book fair in Gothenburg, the seminar with Ruta Vanagaite and Efraim Zuroff, is unfortunately cancelled, but I do hope the authors will be able to come to Sweden in the future. If they will, I'd be more than happy to arrange a debate together with the Lithuanian embassy in Stockholm! You could chose two persons to challenge the authors of Vårt folk/Our people. I will do my best to persuade the latter to participate and defend their book against their critics. I am sure that many people would like to attend a public debate like that!

Now, to your remarks about the website of my publishing house.

I am glad to hear that Vårt folk/Our People is available on the internet bookshops in Lithuania but, as you imply in your letter (!), the ordinary, physical bookshops are still not distributing Ruta Vanagaite's books today! So the the sentence on our website, that Lithuanian bookshops are refusing to distribute Ruta Vanagaite's books, is still correct as far Lithuainian bookshops is refering to ordinary, physical bookshops.

The other sentence you complain about, 'Hennes böcker rensas ut ur hela Litauen' (Her books are cleansed from the whole of Lithuania), happens to be the title of the article that was published in Dagens Nyheter (https://www.dn.se/…/hennes-bocker-rensas-ut-ur-hela-litauen/) and Hufvudstadsbladet (https://www.hbl.fi/…/hennes-bocker-rensas-ut-ur-hela-litau…/) in December 2017. In this article, by Anna-Lena Laurén, the cleansing of Ruta Vanagaite's books is described in a very detailed manner.

Best regards

BJÖRN EKLUND
Publisher / Förläggare

 

Eine gute! Buchkritik vom Historiker und Filmkritiker Linas Vildžiūnas gibt es bei neweasterneurope

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