The Nazi's Granddaughter

Jonas Noreika
Von Silvia Foti 2021, Englische Ausgabe, Rezension Andreas Kuck

Silvia Foto Jonas Noreika

Die Taschenbuchausgabe hat den etwas moderateren Titel:" Storm in the Land of Rain: A Mothers Dying Wish Becomes Her Daughter's Nightmare."


Jonas Noreika war ein litauischer Jurist und Militär. Beim litauischen Aufstand gegen das sowjetische Besatzungsregime 1941, kooperierte er eng mit den Deutschen (er war Chef der "LAF" von Zemaitija). Der Aufstand fand zeitgleich mit dem Angriff der Wehrmacht gegen die Sowjetunion statt. Nach dem Aufstand und der Besetzung Litauens durch die Deutschen wurde er Anfang August Kreischef von Siauliai und hatte damit eine hohe Stelle in der litauischen Verwaltung inne (er löste den weniger radikalen Ignas Urbaitis ab).
Noreika ist einer von vielen Litauern, die mit den Nazis kooperierten. Litauen wurde zwar von den deutschen Besatzern kontrolliert ... diese waren aber zahlenmäßig auf die litauische Verwaltung angewiesen.

Noreikas Unterstützer weisen darauf hin, dass er in seiner Stellung als Kreischef etwas für sein Land und die Litauer tun konnte. Das mag sein. Allerdings tat er nichts für die litauischen Juden. Noreika war wie viele junge Militärs in seiner Zeit ein Antisemit. Der Antisemitismus zieht sich durch seine Biografie. Schon in jungen Jahren schrieb er das Büchlein "Pakelk galva lietuvi!!!" (Kopf hoch Litauer), in dem er die Litauer zu mehr Nationalstolz und Widerstand gegen die Juden aufforderte.
Als sich das Deutsche Reich auf den Krieg mit der Sowjetunion vorbereitet, reist Noreika mehrfach ins Memelgebiet, um sich mit den Deutschen abzustimmen.

Bei Kriegsbeginn greifen die Litauer zu den Waffen und schießen den Russen hinterher (so drückte es Alex Faitelson in einem Buch aus). Vermeintliche Kommunisten werden gefangen genommen, gequält und ermordet. Litauer, die mit den Sowjets kollaborierten, sind in der deutschen (und litauischen) Propaganda alles Juden. Dementsprechend ist nun kein Jude mehr sicher. Noreika war der Chef von einer LAF Abteilung in Zemaitija. Nach dem deutschen Einmarsch kam es zu Massenmorden an Juden in Plunge und Telsiai, für die es keine Aufzeichnungen, der sonst alles sehr genau notierenden Deutschen gibt. Laut Foti waren damals in Plunge nur zwei Deutsche. Niemand weiß, wer die Befehle zu den Massakern gab. Noreika, als Chef der LAF muss aber zumindest von den Massakern gewusst haben.


Am 3. August 1941 wurde er Leiter der Siauliaier Zivilverwaltung, immerhin die viert-größte Stadt Litauens unter dem deutschen Gebietskommissar Hans Gewecke. Als Leiter der Verwaltung gibt er die Befehle seines Chefs an die ausübenden Organe, sprich Litauer, weiter. Unter anderem unterzeichnet er den Befehl, Ghettos zu bilden und die Juden zwangsweise dort zu internieren. Christoph Dieckmann meinte zwar in einem Buch mit Ruta Vanagaite, dass zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar war, dass alle Juden in diesen Ghettos dem Tode geweiht waren, aber wie gesagt, aus seiner Zeit in Plunge müsste Noreika der Umgang mit den Juden bekannt gewesen sein.

Noreika macht im deutschen Spiel willig mit, die Verfolgung und Ermordung der Juden und die Ausbeutung des Landes für die gemeinsamen Ziele, also den Kampf gegen die Sowjetunion. Solange die deutsche Politik nicht gegen nationallitauische Interessen verstieß, kam kein Protest.

Allerdings ließ das deutsche Kriegsglück bekanntermaßen irgendwann nach. Deutschland versuchte seine Personallücken mit litauischen Freiwilligen zu füllen. Eine litauische SS-Legion sollte entstehen, die aber nicht auf litauischem Boden und nicht unter litauischen Offizieren kämpfen sollte. Nun begann die litauische Verwaltung zu zeigen, dass sie auch Widerstand konnte (als es um die Vernichtung der "Nichtlitauer" ging, gab es keinerlei davon!).

Litauische Intellektuelle (die 1941 noch willig in deutschen Diensten standen), versuchten die Aushebung der SS-Legion zu verhindern. Als Strafe und Abschreckung wurden 46 prominente Litauer verhaftet und ins Konzentrationslager Stutthof deportiert. darunter Jonas Noreika. Foti schreibt, dass ihr Großvater 77 Briefe aus der Haft an seine Frau schreiben konnte, Fresspakete aus der Heimat empfing und laut Balys Sruoga Zugang zum Frauentrakt (sprich zu Zwangsprostitution) hatte.

[Was sich in Balys Sruogas Buch doch etwas anders liest. Sruoga schildert, dass die Litauer erst wie alle anderen Häftlinge behandelt wurden, die Schilderungen vomn Lagerleben sind erschütternd, dann aber pötzlich der Lagerkommandant die Litauer antreten ließ und ihnen mitteilte, sie seinen ab jetzt "Ehrenhäftlinge".

Zum Frauentrakt schreibt Sruoga: "Unsere neue Baracke zeichnete sich durch ihre besondere Lage aus. Eigentlich war den Häftlingen das Herumstreichen in der Nähe der Frauenbaracken strengstens verboten, wer dabei erwischt wurde, den erwarteten harte Strafen. Hohe Stacheldrahtzäune trennten denn auch Männer- und Frauenbaracken. Doch wir waren jetzt gleich neben den Frauen untergebracht. Sie wohnten auf einer Strßenseite, wir auf der anderen. Nicht einmal ein winziger Zaun lag zwischen uns- gar nichts trennte uns.

< Das ihr die Frauen in Ruhe lasst!>, warnte uns der Lagerführer. <Wenn ich euch bei den Frauen erwische, dann blüht euch was!>.

Wir hielten uns getreu an die Anweisung des Lagerführers. ...   Die Frauen auf der anderen Straßenseite verloren schlussendlich die Geduld mit uns und maulten, die litauischen Männer seien keinen Pfifferling wert- wie die Frösche im Oktober. Wir gaben stolz zurück, wir seien unseren Frauen treu."  Balys Sruoga, Wald der Götter S. 122  Balys schreibt auch, dass "normale" Häftlinge alle zwei Wochen Briefe schreiben konnten. Die litauischen "Ehrenhäftlinge" jede Woche.]

Durch das Einsitzen in Stutthof sehen die Litauer Noreika nicht nur als Widerständler gegen die sowjetischen Besatzer an, sondern auch gegen die Nazis. Zumindest wenn man seine Arbeit unter den deutschen Besatzern nicht so ganz genau betrachtet.

Die Autorin Silvia Foti, eine amerikanische Lehrerin, ist die Enkeltochter von Jonas Noreika. Ihre Großmutter ist mit Fotis Mutter 1944 aus Litauen über Deutschland in die USA geflüchtet. Dort gibt es eine große litauische Gemeinschaft. Als Silvia Fotis Mutter schwer erkrankt, ringt sie ihr das Versprechen ab, ein angefangenes Buch über Jonas Noreika zu beenden. Foti gibt das Versprechen, um dann festzustellen, dass gar kein Buch existiert. Nur sehr viel Material von und über Jonas Noreika. Trotz vieler familiärer Probleme wächst Silvia Foti langsam in die Rolle einer Journalistin hinein, nimmt sogar Schreibkurse und beginnt Reisen nach Litauen zu unternehmen. 2000 überführt die die Särge ihrer Mutter und der inzwischen ebenfalls gestorbenen Großmutter nach Litauen. Bei dem dortigen Begräbnis ist auch Vytautas Landsbergis dabei. 
In ihrem Buch über ihren Großvater beschreibt sie all diese Fakten (die größtenteils durch die Arbeit des Siaulaier Journalisten Evaldas Balciunas aufgedeckt worden sind) und ihren Kampf mit sich selbst, mit der litauischen Gesellschaft in den USA und auch der in Litauen. Anfänglich war Fotis Absicht eine positive Biografie über ihren Großvater zu schreiben...genau wie sie es ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen hatte. Bei der Durchsicht von Mutters Archiv und nach Gesprächen mit Historikern wie Saulius Suziedelis kamen langsam Zweifel an Noreikas weißer Weste. 

Sie beschloss Litauen erstmals auf eigene Faust zu besuchen und organisierte sich Hilfe, um möglichst viel in Litauen zu sehen und zu erfahren. Darunter Simon Dovidavicius, dem Direktor des Sugihara Hauses in Kaunas, Verwandte von Foti in Litauen sowie alte Kampf und Weggefährten von Noreika. Die Zusammenarbeit mit dem Juden Dovidavicius beschreibt sie ähnlich wie Vanagaite das in Musiskiai mit Efraim Zuroff macht. Foti von der Täterseite, Dovidavicius als Jude die Opferseite. Natürlich verstehen die beiden sich gut und Foti erfährt viel neues auf ihrer Reise. Bei den Weggefährten ihres Vaters zweifelt sie die Glaubwürdigkeit des einen oder anderen an, besonders wenn die ihre Recherchen über den Holocaust als nicht wichtig betrachten. Juden werden immer noch als Kommunisten angesehen.

Silvia Fotis Buch kann man als ihre eigenen Memoiren sehen, als Abrechnung mit ihrem Großvater, den sie verantwortlich macht für Kollaboration mit den deutschen Besatzern und den Tod von vielen litauischen Juden, auch als Anklage an die litauische Gesellschaft, die diesen Helden, der nach all den Fakten kein Held sein kann, trotz allem noch ehrt und Schulen nach ihm benennt und Erinnerungstafeln in der Hauptstadt aufhängt. Ein schweres Buch. Wer schreibt gerne, dass Teile seiner Familie zu den Tätern gehörten? "The Nazi`s Granddaughter" ist somit aber kein reines Geschichtsbuch, sondern schildert die Entwicklung Fotis, wie sie überhaupt so über ihren Großvater schreiben konnte und die vielen Probleme in ihrem Leben. Wer speziell an den geschichtlichen Dingen interessiert ist, für den gibts vielleicht in Fotis Buch ein paar Längen, weil eben auch Beiläufiges beschrieben wird. Neben diesen Nebensächlichkeiten, über die Foti berichtet, störte mich das nicht vollständige Inhaltsverzeichnis. Das erschwert das Auffinden von Textstellen und die Recherche im Buch.
Während ihrer Recherchen ist Fotis 21-jährige Tochter gestorben. Das hat mich besonders erschüttert, auch weil meine eigenen Kinder in einem ähnlichen Alter sind.


Beim Holocaust in Litauen wurden oft keinerlei Aufzeichnungen gemacht. Er lief teils rasant schnell ab. Besonders wenn wenig oder gar keine Deutsche vor Ort waren fehlen Daten. Deshalb gibt es auch keine Beweise, dass Noreika persönlich an Erschießungen beteiligt war. Als Chef der "LAF" von Zemaitija muss er aber zumindest von den Massakern in seinem Gebiet informiert gewesen sein. Als Kreischef von Siauliai unterzeichnete er nicht nur die Befehle für die Bildung eines Ghettos, sondern auch die Deportation der Juden, die Beschlagnahmung der jüdischen Wertsachen. Er selbst bewohnte kurz ein Haus, das von Juden konfisziert worden ist. Möbel aus diesem Haus konnte Foti bei ihrem Besuch in Litauen bei Verwandten besichtigen.

Foti schreibt, dass Noreikas Schweigen und der Mangel an Bedauern nach 1945 schwer wiegt. Noch schwerer zu ertragen ist allerdings die Weigerung der Litauer, Jonas Noreika den Heldenstatus abzuerkennen. Tatsächlich sind die Beweise gegen ihn so überzeugend, dass jegliche Ehrung Noreikas in Litauen unverständlich ist. Die schon einmal zerstörte Tafel an der Wroblewski Bibliothek wurde wieder neu aufgehängt. 

Jonas Noreika

Silvia Fotis Buch ist ein interessanter Beitrag zur litauischen Geschichte. Empfehlenswert!

Mehr über Jonas Noreika: https://alles-ueber-litauen.de/litauen-im-ueberblick/litauische-persoenlichkeiten/jonas-noreika-vilnius

Ich kann es nicht verstehe, aber es gibt über Leben und Wirken von Jonas Noreika auch komplett andere Sichtweisen. Weiteres folgt...