Pogrome im Jahre 1941

Tobias Noack  Studienarbeit     Grin Verlag 2011

"Die Beteiligung der zivilen Bevölkerung an den Massenausschreitungen nach Beginn der Operation 'Barbarossa' "



Der Titel der Studie von Tobias Noack hört sich vielversprechend an, passt das Thema doch sehr zu vielen unserer Berichte, die in Litauen/Geschichte behandelt werden.

Herr Noack beschreibt Pogrome in Kaunas, Lettland, Lemberg und im polnischen Jedwabne.

Leider konnte das Heftchen die Erwartungen in keinster Weise erfüllen.
Die für uns interessanten Ausschreitungen sind sehr oberflächlich beschrieben. Alle Informationen sind online und in der Fachliteratur wesentlich detaillierter vorhanden.

Manche Textstellen verwirren. So schreibt Noack "Pogrome breiten sich IMMER flächendeckend aus". Während es einen Satz weiter heißt, dass es OFT zu Folgepogromen in anderen Städten kommt.

Weiter gehts: "Als die Wehrmacht Litauen am 22.Juni 1941 besetzte und die Bolschewisten vertrieb, änderte sich das Leben der jüdischen Einwohner nicht erheblich". (Ihre Ermordung und Ghettoisierung begann nur.)

Weiter wird der Verlust von Vilnius an Polen beschrieben, ohne irgendein Wort über die Umstände zu verlieren. In Vilnius wohnten damals weniger als 4 % ethnische Litauer. Die meisten Einwohner sahen sich als Polen oder waren Juden. Der polnische Staatspräsident und Oberbefehlshaber der polnischen Armee, Pilsudski, war in Vilnius geboren. Das hat mit der langen gemeinsamen Geschichte Litauens mit Polen zu tun, die ab 1569 einen gemeinsamen Staat bildeten.


Auch die Behauptung unter Staatspräsident Smetona hätte es keine weitere Radikalisierung der Antisemiten gegeben, ist falsch. Zwar gab es unter Smetona keine antisemitische Politik, aber am rechten Parteienrand kam es unter Augustinas Voldemaras zu einer 'radikal faschistischen Bewegung', die die Regierung Smetona bekämpfte:

"Der Verband hatte kein politisches Programm, sondern verstand sich als aktive politische Wache des litauischen Volkes, der alle »antivölkischen« und »antistaatlichen« Aktivitäten bekämpfen wollte, um eine neue Ordnung nach italienischem Vorbild zu schaffen. Seine Hauptgegner sah er in Polen und Juden. Er behauptete, seine Ziele seien »die Ehre des Volkes und das Wohlergehen des Staates«. In Kaunas hatte der Gelezinis Vilkas 1930 etwa 1.000 bewaffnete Mitglieder." (Dieckmann "Deutsche Besatzungspolitik")

Gelezinis Vilkis Litauen

Kernave: Eiserner Wolf "Ohne Vilnius werden wir nie ruhen!" 2004 ;-)


Dass die Zentrale der "LAF" (Litauische Aktivisten Front) in Berlin war ist richtig, dass sie Sabotageaktionen gegen die sowjetischen Besatzer (1940 wurde Litauen in Folge des Hitler Stalin Paktes von den Sowjets besetzt) stimmt auch, dass sie aber in die Pläne der Operation Barbarossa eingebunden waren und am 22. Juni 1941 mit dem Angriff der Deutschen koordiniert der antisowjetische Aufstand begann, wird nicht erwähnt.

Die litauischen Partisaneneinheiten der LAF, die sogenannten "Weißarmbindler" (Baltaraisciai") waren auch nicht nur an Pogromen (gegen Juden natürlich) beteiligt, sie übernahmen auch später den Großteil der Erschießungen in Paneriai, 9. Fort Kaunas und in allen litauischen Dörfern, in denen die deutschen Sonderkommandos wüteten. Ausführlich beschrieben von Christoph Dieckmann.

Bei der "schauderhaften Beobachtung" des Oberst von Bischoffshausen handelt es sich um das sogenannte Lietukis Massaker, passiert ca. am 24. Juni 1941 in Kaunas. Dort sind jüdische Männer mit Stangen zu Tode geprügelt worden. Teilweise ist ihnen auch Wasser eingetrichtert worden.

Es gab auch nicht nur einen deutschen Beobachter, sondern mehrere. Seit 2016 ist ein Feldpostbrief von einem anwesenden Wehrmachtssoldaten bekannt, der vom Massaker am Garagenhof berichtet. LINK

Der Leiter des für die Garage zuständigen LAF Kommando sagte später, er hätte von dem Massaker nicht mitbekommen. Außerdem hätten alle Getöteten für den NKWD gearbeitet. Natürlich waren nicht alle NKWD Mitarbeiter Juden und natürlich wird der für den Schutz der Garage zuständige LAF Mann Bescheid gewusst haben.

Wird leider alles nicht bei Tobias Noack erwähnt.


Die Beteiligung am Aufstand gegen die Sowjets wird von Noack als spontan beschrieben. Er vergisst dabei die rege Vorarbeit der radikalen LAF in Deutschland und Litauen. Auch die Siaulisten (Schützenverein) waren eine antisemitische Vereinigung, die sich an der Judenverfolgung beteiligte.


"Durch die massive Beeinträchtigung der einheimischen Bevölkerung und der Kollaboration einiger Juden mit dem NKWD während der sowjetischen Besatzungszeit, entstand dieser sich stetig aufbauende Antisemitismus."
Es waren viele Juden, die für die Sowjets gearbeitet haben. Sogar überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil.
Allerdings waren es die Litauer nicht gewohnt, Juden in staatlicher Funktion irgendwo zu sehen, da sie in der Smetona Zeit von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen waren. Plötzlich gab es Juden bei der Polizei, bei den staatlichen Stellen, die die Bevölkerung drangsalierte.

Der Antisemitismus war aber überall verbreitet. Lesen sie das hervorragende Buch "Europa gegen die Juden" von Götz Aly, um zu verstehen, wie aufstrebend und erfolgreich die europäischen Juden waren, und wie viel träger die "einheimische" Bevölkerung dagegen war. Der Hass und die Missgunst auf die Juden entstand also nicht erst 1940.

Interessant, und meiner Meinung etwas realitätsfern, auch seine Haltung zur Vergangenheitsbewältigung.
"Jedwabne wird sich erst von dieser schrecklichen Vergangenheit befreien können, wenn die alten Generationen, welche dieses Feindbild des Juden vertreten, aussterben und sich eine neue unbefangene Generation entwickeln kann."

Leider verkennt diese Haltung völlig, dass Antisemitismus eine Krankheit ist, die nicht geheilt werden kann. Wir werden jeden Tag Zeuge von Rassenhass und Antisemitismus.

So wird auch die mangelnde Aufarbeitung der eigenen Geschichte Litauens nicht erwähnt. Litauer wollen Opfer sein, Juden spielen höchstens als Täter (in sowjetischen Diensten) eine Rolle.

Deshalb stimme ich auch nicht mit Noacks Schlusssatz überein:
"Pogrome der einheimischen Bevölkerung an den ethnischen Minderheiten eines Ortes werden immer zu einer Belastung der nachfolgenden Generationen".

Die mangelnde Aufarbeitung der eigenen Beteiligung an der Geschichte des Holocaust wird uns noch lange verfolgen. Erst wenn wir Täter 'Täter' nennen und unsere Untaten wirklich bereuen (und nicht insgeheim über den Verlust der europäischen Juden froh sind), werden wir mit unserer Geschichte ins Reine kommen.

Das sieht in Litauen (natürlich nicht nur da) nicht unbedingt so aus.