Jonas Avyzius

Zeit der verödeten Höfe

Jonas Avyzius

Bemerkenswerter Buchumschlag!

 

Verlag Volk und Welt Berlin 1977   591 Seiten

Übersetzung Irene Brewing


Jonas Avyzius war ein litauischer Schriftsteller (1922 bis 1999), der die Kriegswirren als Journalist und Soldat erlebte. Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Journalist und saß von 1996 bis 1999 im litauischen Parlament.

Obwohl "Sodybu Tustejimo Metas" (wie das Buch auf litauisch heißt), erst 1973 geschrieben wurde, beschreibt es auf eindrucksvolle Weise das Leben in Litauen in den Jahren der sowjetischen und deutschen Okkupation 1940 bis 1943.

Da der Autor dieser Zeilen kein Literaturwissenschaftler ist (meine Buchkritik an "Die Grünen" von Marius Ivaskevicius erzeugte einiges böses Blut) bitte ich um Nachsicht bei der Beurteilung und der Wortwahl. Verbesserungsvorschläge sind immer erwünscht.

Der Roman "Zeit der verödeten Höfe" ist eine epische Erzählung über die Bürger des litauischen Dorfes Lauksodis und der Kreisstadt Krastupenai, die den Einmarsch der Sowjetunion und deren verheerendes Wirken, sowie den 1941 erfolgenden Einmarsch der deutschen Wehrmacht (begeistert mit Blumen empfangen) mit den nun beginnenden Judenerschießungen und den neuerlichen Repressionen erleben. Schon bald beklagen sich die deutschen Besatzer, dass die Blumen verwelkt und keine neuen mehr verschenkt wurden.

Avyzius transferiert den Makrokosmos der litauischen Geschichte dieser Jahre in den Mikrokosmos dieser fiktiven Dörfer. Die Hauptpersonen der Handlung sind der Gymnasiallehrer Gediminas Dziugas sowie der Polizeichef Adomas Vainoras. Beide arbeiten in Krastupenai und kommen aus dem Dorf Lauksodis, wo ihre Familien immer noch ihre Höfe betreiben.
Gediminas kommt nach der Flucht vor der Verschleppung durch die Sowjets zurück nach Krastupenai, wo Adomas mittlerweile Polizeichef ist und die deutschen Besatzer (nicht immer ganz freiwillig) tatkräftig unterstützt.

Die litauischen Nationalisten sehen in dieser Kooperation (Adomas als Polizeichef) die beste Möglichkeit, ihrem Land zu helfen. Dabei kommt es leider zur Vereinnahmung der litauischen Polizeikräfte in den Massenmord an den litauischen Juden, wo sie für Ordnungsaufgaben und Erschießungen (mit)-verantwortlich sind. Avyzius beschreibt das Dilemma der Litauer, die zwischen zwei Stühlen sitzen und vermeintlich versuchen, ihrem Land zu helfen, dabei aber den deutschen Besatzern von großem Nutzen sind und einen nicht unerheblichen Anteil an den Tötungen der ca. 196.000 litauischen Juden hatten. (Manche  NS-Funktionäre empfanden den Eifer der litauischen Geheimpolizei bei der Judenverfolgung intensiver als den der eigenen Leute).

Avyzius schreibt dies alles mit einer für mich verblüffenden Offenheit. Natürlich wird der Sozialismus idealisiert, wobei ich mir nicht immer sicher bin, ob Avyzius bei manchen Schilderungen Ironie aufblitzen lässt.  Man muss dabei bedenken, dass sein Buch in der Sowjetzeit geschrieben wurde. Über Juden wurde damals kaum geredet, an den Stätten der Massaker durften die Ermordeten keine Juden sein, sondern auf den Gedenktafeln stand Sowjetbürger.

Beim lesen des Buches habe ich oft "Zensur" auf den Seitenrand geschrieben, immer wenn eine Textstelle trotz des sowjetischen Zensors erstaunlich offen ist (dieses markieren ist eine Angewohnheit, um wichtige Textstellen nicht zu vergessen).

Während Polizeichef Adomas immer weiter in die Mühlen der Gestapo gezogen wird, versucht Gediminas sein Schicksal als Rädchen im Getriebe der deutschen Besatzung abzuschütteln. Er verlässt das Gymnasium (wo er als Lehrer arbeitet) und geht zu seinem Vater aufs Land. Beide verweigern den Deutschen die geforderten landwirtschaftlichen Abgaben und unterstützten stattdessen verarmte Unterstützer der kommunistischen Partisanen. Natürlich folgt bald die Quittung.

Avyzius gelingt mit seinem Roman, viele Aspekte des damaligen Lebens zu schildern: Die russischen Deportationen nach Sibirien (trotz Zensur); vorher landlose Bauern haben plötzlich nach der sozialistischen Umverteilung das Sagen; die Juden versuchen, ihre Kinder den litauischen Bauern zu geben, um deren Überlebenschancen zu erhöhen; Russische Verwundete werden von Litauern versteckt und gepflegt, aber auch wieder von Litauern verraten und getötet.

So geht ein Riss durch die litauische Bevölkerung, die zwischen Heimatliebe, Opportunismus, Passivität, Kommunismus oder aktiver Dienstbarkeit unter der Gestapo zerrissen ist.

Auch wenn Avyzius erstaunlich offen und ausgewogen schreibt, sind natürlich die Kommunisten die Guten, neben den zu verachtenden Passiven (Bauer Kersis) und diejenigen, die sich dem deutschen Teufel verkauft haben.

Wahrscheinlich wird der litauische Widerstand gegen die Deutschen von Avyzius überbewertet. Der kam eher von russischen Partisanen und jüdischen Gettoflüchtlingen. Und da der Roman endet, als die Erfolge der Wehrmacht im Osten schwinden (also Ende 1942), werden die litauischen Partisanen, die sogenannten Waldbrüder,  die 1944 aus den Wäldern die sowjetischen Besatzer und ihre eigenen Leute bekämpften, nicht mehr erwähnt. Hier hat Marius Ivaskevicius mit seinem Buch Zali (Die Grünen) weitergemacht, der den Kampf der Waldbrüder schildert. Leider kann sein Buch (meiner subjektiven Meinung nach) an die Erzählerqualitäten eines Avyzius nicht heranreichen.

Der Übersetzerin Irene Brewing gebührt ein dickes Lob für ihre sehr gut lesbare Übersetzung.

Auf dem Buchumschlag sind die handelnden Personen abgedruckt, was beim Lesen hilfreich ist.


Die Bücher von Jonas Avyzius gibt es nur noch gebraucht bei Ebay, beim ZVAB oder Amazon.

Jonas Avyzius schafft es mit "Zeit der verödeten Höfe", dem Leser einen Eindruck über die schwierigen Verhältnisse Litauens der Zeit um 1941 zu vermitteln. Er beschreibt nicht nur die verschiedenen politischen Strömungen, sondern gibt auch einen interessanten  Einblick, wie das Leben auf den Höfen war und wie die Litauer ihr Leben lebten. Das Buch wurde im System der Sowjetunion geschrieben. Es ist deshalb natürlich einseitig. Heute wissen wir, dass die sowjetischen Besatzer nicht viel besser waren als die Nationalsozialisten. Klammert man die Zeit nach 1943 aus, ist das Buch bestechend nah an der Realität.

Meine Leseempfehlung! 

 


Für den Hinweis auf das Buch danke ich Prof. Dr. Christina Parnell.

 

Folgend einige Buchzitate:

Die schöne Milda über Pflichten der Frau:

"  ' Ich sehe, Sie sind Egoist wie alle Männer die sich selber das Vergnügen vorbehalten und den Frauen Entbindungsqualen und schlaflose Nächte an der Wiege zu bescheren'.

'Aber die Pflicht der Frau gegenüber ihrem Volk ist ...'

'Das ist preussischer Stil, Herr Sargunas, fiel sie ihm hitzig und gereizt ins Wort. Die Deutschen haben ihre Frauen zu Gebärmaschinen gemacht, ich aber halte mich an den englischen Stil: zunächst Lady und dann erst Maschine. Die Frau muss sich erst klären wie Wein - sie soll selber entscheiden, wann sie Mutter werden möchte. Ihr Männer gießt Essig in den Wein, damit er sauer wird, und geht danach fremden Wein kosten."

 

Über litauische Hilfe bei den Erschießungen:

"Er glaubte, das Gewehr sei nur zum Antreiben von Verhafteten da, um in die Luft zu knallen, Mädchen zu erschrecken, dabei stellte sich heraus, noch am selben Tag ... Schwergeheizte Stimmung, den Fluss ohne Ufer, in dem man, einmal hineingeraten, hoffnungslos verloren war. Und so schwamm er mit dem Strom. Und im Herbst wieder ... Da war es nicht mehr so schrecklich. Er fühlte sich sogar im Recht und schäumte vor Wut. Israeliten! Hatten nicht sie Jesus gekreuzigt? Gottes Sohn!"

Faszinierend auch die Beurteilung der litauischen Großfürsten:

"... Zu behaupten, dass ein Staat - obendrein eine so einmalige Erscheinung in der Geschichte wie die litauische - wegen der Unfähigkeit der Großfürsten zugrunde gegangen sei, weil sie Schwachköpfe und Ähnliches gewesen seien. ..."

 

"Wenn sie ein normales Verhältnis zwischen Verstand und Gefühl hätten, müssten sie zugeben, dass der Untergang des litauischen Staates im Charakter seines Volkes begründet liegt ... In den Litauern pulst noch etwas von dem Blut der alten Arier, das unsere Vorfahren, die Balten, vor einem Jahrtausend von den Ufern des Ganges mitgebracht haben. Der Litauer ist edel, gastlich, gesellig, gradlinig - alles Eigenschaften, für die uns die Chronisten anderer Völker gelobt haben und auf die wir selber stolz sind; doch diese Eigenschaften haben uns zugrunde gerichtet. Jeden Abenteurer, der an unserem Hof vorbeikam, haben wir in unser Haus geladen und zu Tisch gebeten. ..."

Lehrer diskutieren über Widerstandsarten:

"Wir pfeifen auf ihre Ablieferungen, Herr Dziugas. Wir hätten nur zu wollen, durch unsere Schüler nur auf den Knopf zu drücken brauchen, und der größte Teil des Dorfes hätte kein Gramm Fleisch oder Korn abgeliefert. Aber wir haben es nicht getan - unsere Politik ist nicht, die Deutschen zu reizen, dass noch mehr litauisches Blut vergossen wird. Mögen sich damit die befassen, die auf Hitlers Kopf zielen, wie sie sagen, in Wirklichkeit aber die Eigenen umbringen."

Über den Nationalsozialismus:

"... Stellen sie sich das Chaos in der Natur vor, wenn das stärkere Wesen nicht das schwächere vernichten würde. Die Fauna des Erdballs wäre längst entartet, denn die Mittelmäßigkeit, die quantitativ überlegen ist, hätte die Elite verschlungen."

Der Gestapochef Dangel:

"Falls Deutschland verlieren sollte, was natürlich kein Mensch mit klarem Verstand annimmt, dann kommen die Russen hierher. Nicht die Engländer oder Amerikaner, worauf sie hoffen, Herr Dziugas, sondern die Bolschewisten. Und diesmal werden sie weit wütender sein als beim ersten Mal und die Schüsse doppelt und dreifach vergelten, die ihr den Fliehenden in den Rücken gejagt habt. Sie werden die Rechnung auf der Stelle begleichen, ohne Güterwagen."

Über die Verhöre der Gestapo:

"... Worte stürzten aus seinem Mund wie die Körper von Ermordeten in die Grube. Noch nicht ganz tot. Voller geronnenen Blutes, in Todeszuckungen. Mit zerschlagenen Knochen, herausgeschälten Augäpfeln  - Trümmer der schönsten Naturschöpfung, aufs grässlichste geschändet. ... Wie sie einem lebendigen Menschen, den eine Mutter geboren hat, ganz allmählich, Tropfen für Tropfen das Blut aussaugen, Faser für Faser die Nerven herausziehen, die Sehnen, und wenn dann nur noch ein Knochen- und Muskelsack übriggeblieben ist  ..."

Über die Beteiligung am Holocaust:

"... keiner hat sich an Erschießungen beteiligt und eine weiße Armbinde getragen." 

Über die sowjetische Landwirtschaft:

"... Sie nehmen's dir weg. Sie machen Kolchose. Treiben alle an einen Kessel wie bei sich in Russland. Du kannst dir vielleicht zwei Hühner halten und eine Ziege, alles andere gehört ihnen - dem Staat. Und du selber wirst staatlich. Kriegst zu essen, Kleidung wie beim Militär und wirst bis an dein Lebensende dienen. Als Rekrut. Der Faulpelz wird simulieren, und du als ehrlicher Bauer wirst für ihn arbeiten. Dann fängst auch du an zu simulieren, denn wer rackert sich schon gerne ab, wenn der auf der faulen Haut liegt? Ja, alle werden wir Schimmel ansetzen, und das Brot, das vom Faulpelz gegessen wird, wird weinen; und dann werden wir stehlen. Und wo sich Gewissenlosigkeit und Faulheit paaren, sind Bettelstab und Gefängnis nicht weit. Es heißt: Sie kommen und schlachten uns ab. Wozu aber sollen sie uns abschlachten, wenn wir von alleine krepieren? Lebendig verfaulen an Leib und Seele. Das ist Gottes Wille, Schicksal. Du kannst weghopsen wie der Frosch vor der Sense, nutzen wird's dir nichts: Die Schnitter kommen von zwei Seiten, zwei Sensen, zwei weit aufgerissene Rachen. Worin liegt der Unterschied, ob du dem Bären in die Fänge gerätst oder dem Wolf in den Rachen? Hauptsache sie kauen nicht zu langsam. Wenn schon sterben, dann schnell. ..."

 

 

2015 bekam meine Sicht auf Avyzius einen Riss. 1995 hat der Autor über den Besuch vom litauischen Präsidenten Brasauskas in Israel (der sich dort für die litauische Beteiligung am Holocaust entschuldigte) erklärt:

“His Excellency obediently apologized for Lithuanian criminals, who murdered Jews during the Nazi occupation. But there was not the slightest hint that the President of Israel should do something similar, condemning his Jewish countrymen, who worked in repressive institutions in Lithuania occupied by the Soviets and sent thousands of Lithuanians to concentration camps.”

Brasauskas sei nicht sein Präsident. (Quelle: Liudas Truska)

 

 

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