Wir sind die Wolfskinder
Verlassen in Ostpreussen
Sonya Winterberg Piper Verlag 2014
Wir sind die Wolfskinder erzählt die ziemlich unbekannte Geschichte der ostpreussischen Kinder nach 1945, die durch den Einmarsch der Roten Armee keine Befreiung vom Joch der Nazis erleben durften, sondern mitsamt ihren Müttern, für die Verbrechen Hitlers leiden mussten.
Die finnisch-schwedische Journalistin, geboren 1970, schrieb vor diesem Buch bereits eins über "Kriegskinder- Erinnerungen einer Generation".
Kann man die Vergangenheit überhaupt bewältigen? Und wenn ja, dann am ehesten durch Nacherzählen der Geschichte und dem Schicksal der Menschen, die unfreiwillig dabei waren. So die Einleitung.
Wolfskinder (durchaus nicht unumstritten ist dieser Begriff bei den Überlebenden selbst) werden die aus Ostpreussen, also der ehemaligen deutschen Region um Königsberg, ins benachbarte Litauen geflüchteten Kinder genannt. Litauen war bei den einmarschierenden Sowjets zwar auch nicht besonders beliebt, hatte sich das Land doch 1941 auf die Seite Hitler-Deutschlands gestellt und mit einem Aufstand mitgeholfen, die sowjetische Besatzungsmacht zu vertreiben. 1944 sind die Sowjets wieder da, die Drangsalierungen der Bevölkerung, die Willkür und die Deportationen nach Sibirien gingen wieder los.
Trotzdem galt Litauen für die verhungernde ostpreussische Bevölkerung als Land, in dem es Brot und Kuchen gab, quasi ein Schlaraffenland, eine letzte Hoffnung das Inferno der Jahre nach 1945 zu überleben. Während das Memelland schon früh geräumt wurde, mussten die Ostpreussen ausharren. Hier stiessen die Soldaten der Roten Armee erstmals auf die deutsche Zivilbevölkerung und der angestaute Hass entlud sich. Frauen wurden massenhaft vergewaltigt, es wurde vertrieben, willkürlich erschossen und der Hunger wütete.
Sonya Winterberg beschreibt diese Zeit in Ostpreussen sehr intensiv anhand von Einzelschicksalen. Sie hat viele dieser Wolfskinder persönlich kennen gelernt, sich ihre Schicksale schildern lassen und ihre Geschichten in diesem Buch für die Zukunft dokumentiert.
Kinder mussten erleben, wie ihre Mütter vergewaltigt wurden, sie waren sogar dabei und es war oft nicht "nur" einmal. Väter waren sowieso irgendwo an der Front, und fielen die Mütter den Vergewaltigungen, dem Hunger oder den Erschiessungen zum Opfer, waren die Kinder auf sich alleine gestellt.
Litauen war für viele die letzte Hoffnung. Dort sollte es Essen geben und so machten sich Gruppen von Kindern, vom Kleinkind bis zum Jugendlichen, auf den beschwerlichen Weg nach Norden. Entweder auf den Dächern von Zügen, oder mit Holzflössen über die Memel, die nicht viel weniger breit ist, als wie der Niederrhein.
Beides ein gefährliches Unterfangen.
Hatten die Kinder die verbotene Einreise nach Litauen geschafft, zogen sie bettelnd durch das Land und lebten draussen im Wald. Durch dieses wilde Leben in der Natur bekamen sie den Namen "Wolfskinder".
Wenn die Kinder Glück hatten, gaben die Litauer ihnen nicht nur etwas zu essen, sondern nahmen sie ganz zu sich auf, oft auch als Arbeitskraft. Nahmen die Bauern nur ein Kind auf, mussten die Geschwister weiter ziehen. Ein hartes Schicksal.
Sehr mutig von Winterberg finde ich die Schilderung von Vergewaltigungen, die die aufgenommenen Mädchen in den litauischen Familien nicht selten erdulden mussten. Diesen Teil der Geschichte erzählt niemand gerne. Er wird auch, dass ist meine Meinung, in der Berichterstattung über den Holocaust weitgehend ausgespart.
Natürlich sind alle Wolfskinder froh, in Litauen Nahrung und Aufnahme gefunden zu haben und somit überleben konnten.
Während aber die Sowjets begannen, die überlebende deutsche Bevölkerung aus Ostpreussen in die Sowjetische Besatzungszone zu transportieren, waren die in Litauen lebenden Wolfskinder von diesen Transporten ausgeschlossen. Oft hatte man auch Angst, dass es statt nach Deutschland nach Sibirien ging, wohin, wie schon 1940, wieder viele Litauer deportiert wurden.
Viele Wolfskinder blieben also in Litauen, konnten keine Schulen besuchen und führten ein einfaches Leben und nahmen litauische Namen an. Manche kleinen Kinder kannten ihre richtigen Namen nicht.
"... Als sie nach ihren Namen gefragt werden, sagt Waltraud: "ich heiße Schumpelchen" und Ulli erklärte: "Ich heiße Ullimatz". So sind sie zu Hause von ihren Eltern gerufen worden."
Wie sich Bildung auf das Leben auswirkt, zeigt das Buch anhand von Luise Quietsch. Sie ist 1940 geboren und überlebt als Wolfskind bei einem Koch der Roten Armee in Kaunas. Ihre späteren Adoptiveltern "entführen sie" und können ihr (ihre neue Mutter ist Lehrerin) eine gute Ausbildung geben. Sie nimmt einen litauischen Namen an, kann später studieren und wird Abteilungsleiterin im litauischen Bauministerium.
Während viele andere Wolfskinder ein einfaches, beschwerliches Leben auf dem Land führten (in Litauen oft von Alkohol und Zigaretten begleitet) könnte Luise Quietsch auch aus den USA, Deutschland oder England kommen.
Nach der litauischen Unabhängigkeit erfährt sie, dass ihre Geschwister in Westdeutschland überlebt haben. Es kommt zu Briefkontakten. Bei ihrem ersten Besuch in Deutschland möchte sie einer ihrer Brüder nicht mehr sehen. Ob die Vorurteile gegen die armen Russen/Litauer zu groß sind, oder ob die Ehefrau ihres Bruders den Kontakt scheut, wird nicht klar.
Bei einem zweiten Besuch ist Luise schon Vorsitzende des Vereins der Wolfskinder "Edelweiss", wird von allen umschwärmt und hilft den anderen Wolfskindern.
Nun erst lädt ihr Bruder sie zu sich nach Hause ein.
Nach den neuen Kontakten mit ihren deutschen Familienangehörigen "... wird Luise immer deutlicher, wie sehr sich ihre Lebensentwürfe unterscheiden. 'Zum Beispiel ist mir aufgefallen, dass es immer um die Frage geht: Was essen wir heute? Das ist eine bedeutende Frage! Das macht mich manchmal richtig wütend. Wenn ich etwas zu essen bekomme, ist es gut, und wenn nicht, wird es auch gehen. Oder die Frage: Was für Eis wollen wir heute bestellen? Ich habe sie wirklich lieb, aber unsere Interessen sind einfach sehr verschieden. Sie lesen keine Bücher, begeistern sich nur für diese Seifenfilme...' Die Erfahrungen mit den Geschwistern haben Luise gelehrt, dass ihre eigentliche Familie mit ihr in Litauen lebt".
Wolfskinder erinnert uns auch an die jüngere Geschichte, wie z.B. an Gorbatschow, der ein Ultimatum stellte, damit Litauen seine Unabhängigkeit wieder zurück nahm. Oder wie die deutsche Bürokratie nicht nur in den Wendejahren nach 1990 wucherte, sondern auch noch 2009. Da kam das Suchdienstdatenschutzgesetz heraus. Nun können Journalisten in den Archiven der Suchdienste nicht mehr stöbern, aber noch grotesker:
"Seither darf der vermeintlich reiche Verwandte aus der Bundesrepublik allein darüber entscheiden, ob der vermeintlich ärmere Teil der in Osteuropa gestrandeten Familie seine Kontaktdaten erhält. Die ungleichen Schicksale nach der Vertreibung werden so durch die Bundesrepublik seit Neuestem per Gesetz zementiert."
Die Systeme von Hitler und Stalin waren wahrscheinlich die verbrecherischsten Staatsführungen der Welt. Von der Brutalität unterscheiden sie sich nicht, auch wenn sich die Fans jeder Seite kräftig darüber streiten.
Marschall Schukow, von dem ich vor einiger Zeit den ersten Teil seiner Autobiografie gelesen habe, und den ich als gemäßigten Vertreter der sowjetischen Nomenklatur ansah, brachte seine Truppen vor dem Einmarsch nach Ostpreussen in Kampflaune:
"Die Zeit ist gekommen, mit den deutsch-faschistischen Halunken abzurechnen. Groß und brennend ist unser Hass! Wir haben unsere niedergebrannten Städte und Dörfer nicht vergessen. Wir gedenken unserer Brüder und Schwestern, unserer Mütter und Väter, unserer Frauen und Kinder, die von den Deutschen zu Tode gequält wurden. Wir werden uns rächen für die in den Teufelsöfen Verbrannten, für die in den Gaskammern Erstickten, für die Erschossenen und Gemarterten. Wir werden uns rächen für alles!"
Am Schluss etwas Persönliches. Ein Teil meiner Familie stammt aus Westpreussen und wurde von der Roten Armee bei der Flucht aus Einlage überrannt. Nach den anfänglichen Vergewaltigungen wurden sie von den Russen relativ gut behandelt. Meine Tanten haben bei der Roten Armee in der Küche gearbeitet. Mein Vater war bei Kriegsende 6 Jahre alt. Er erzählte immer, dass die Soldaten kinderlieb waren und ihm immer etwas Essen zusteckten. Mein Vater und die Tanten sprechen nicht schlecht über die Soldaten (zu meinem Erstaunen, muss ich gestehen). Ende 1945 verliessen sie Westpreussen per Viehtransport.
Ich finde das Buch insgesamt gut. Es ist ein Denkmal für die Wolfskinder und ein grosser Dank an die Litauer, die den ostpreussischen Kindern das Leben gerettet haben.
Literarisch kann es aber bei weitem nicht mit der 'Paradiesstrasse' oder 'Aber der Himmel-grandios' mithalten. Um sich über das Thema zu informieren, ist es gut.
Wir sollten aber nie vergessen, dass Hitlers Angriff auf die Sowjetunion dort 27 Millionen Menschen das Leben kostete und wer verantwortlich war für diesen Krieg.
Natürlich sind die Wolfskinder Opfer von Stalin und dem Krieg. Aber auch von Hitler und seinen Helfern!
Empfehlung: Kaufen!