Tomas Venclova

Der magnetische Norden

Erinnerungen – Gespräche mit Ellen Hinsley 2017
Übersetzt von Claudia Sinnig 652 Seiten

Vilnius und Moskau, Leningrad und Berkeley, New Haven und Kotor sind Stationen einer fesselnden Lebensgeschichte, die der "liitauische Odysseus" in Gesprächen mit seiner amerikanischen Dichterlkollegin Ellen Hinsey ausbreitet.

Venclova gut wie immer.

 

Tomas Venclova gilt als einer der wichtigsten litauischen Dichter. Geboren 1939 in Klaipeda als Sohn des späteren Bildungsministers Antanas Venclova (unter sowjetischer Besatzung), begann sein Glauben an das sowjetische System ab 1959 immer weiter zu schwinden. Im Mai 1975 forderte er in einem offenen Brief sein Recht auf Emigration ein.

„Man konnte nicht in der UdSSR leben, ohne an ihren Verbrechen beteiligt zu sein, allein schon die Tatsache, dass alle Steuern bezahlen mussten.“ 

Venclova darf die Sowjetunion am 25. Januar 1977 verlassen. Er selbst spekuliert auf eine Intervention Moskaus (und im Buch tauchen immer kleine Hinweise auf, dass er durch die hohe Stelle seines Vaters in der kommunistischen Nomenklatura eine bevorzugte Behandlung genoss). Nach seiner Ausreise begannen starke staatliche Repressionen gegen seine Freunde in der litauischen Helsinki Gruppe.

Das Buch, im Gesprächstil in sechs Jahren Arbeit mit der amerikanischen Schriftstellerin Ellen Hinsey entstanden, beleuchtet Venclovas Leben in Litauen, seine Kindheit, die Nazi Besetzung, das Leben seines Vaters als Anhänger Stalins, die zwei sowjetischen Okkupationen und der beginnende Zweifel an der Richtigkeit des sowjetischen Systems.

Venclova und Hinsey unterhalten sich sehr viel über Gedichte und Literatur, was mir (der mit Gedichten vielleicht überfordert ist) manchmal etwas zu viel war. Gefühlt wird die gesamte damalige Elite an litauischen Dichtern und Literaten, aber auch die Russlands erwähnt. Tomas Venclova war scheinbar mit allen irgendwie verbunden oder befreundet.
Der Leser findet enorm viele Anregungen an interessanten Literaten, mit entsprechenden Hinweisen zu deren Büchern und bekommt Lust sich mit diesen Schriftstellern zu beschäftigen (Curzio Malaparte, Joseph Brodsky, Anna Achmatowa, Juri Lotmann, Michail Litwinow, Nadeschda und Ossip Mandelstam, Czeslaw Milosz, Salomeja Neris, Boris Pasternak, Andrei Sacharow, Natascha Trauberg und viele mehr).
Von Simas Kudirka (Matrose) habe ich zuerst in der “Magnetische Norden“ gelesen.
Nachdem Tomas sich langsam von den Idealen seines Vaters distanziert, begann seine innere Opposition gegenüber der Staatsgewalt.
Am 1. August 1975 wurde die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet. Ein Dokument, das vollkommen konträr aufgenommen werden konnte.
Venclova beteiligte sich an der Gründung der litauischen Helsinki Gruppe (November 1976), obwohl er Eduard Kusnezows „Gefängnistagebuch“ über das Leben in sowjetischen Gefängnissen gelesen hatte. Jederzeit drohte den Dissidenten die Verhaftung.
Als er die Sowjetunion im Januar 1977 verlassen durfte, genießt er die neu gewonnene Freiheit mit Reisen. Trotz Sorgen vor der Zukunft (Geld zum Leben musste ja auch im Exil verdient werden), kam er in den USA recht gut klar und konnte mit Hilfe von Freunden Dozentenstellen in Yale und Yale bekommen.
Trotzdem kam es nach zwei Jahren zu Depressionen, über die Czeslaw Milosz sagte:
„Ich beneide dich. Heutzutage interessiert sich die Welt für Dissidenten, ich musste zu meiner Zeit im völligen Vakuum existieren, ich war ganz unten.“

Die litauische Gemeinschaft in den USA war groß. In Chicago, (Stadt mit den meisten Litauern außerhalb Litauens) hatte der spätere litauische Präsident Valdas Adamkus ein Anwesen auf dem Antanas Smetona gelebt hatte, gekauft. Hier traf sich die litauische Intelligenz und redete über Gott und die Welt und las Gedichte vor.
Adamkus zapfte Bier.
Venclova bekam dank Czeslaw Milosz eine Dozentur an der Universität Berkely. Dort referierte er über Lotmans Semiotik. Zeitgleich mit dem Ende seiner Dozentenstelle unterrichtete ihn das sowjetische Konsulat (dass aufgrund seiner Aktivitäten, die das sowjetische Ansehen beflecken) seine sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt worden sei.
Venclova war der Neunte (darunter Leo Trotzki und Solschenizyn), der so ein Dekret der Aberkennung der Staatsbürgerschaft bekommen hat. Nun musste er politisches Asyl beantragen.

Nach dem Engagement in Berkeley bekam er eine Stelle an der UCLA (University of California) in Los Angeles, wo er aber nicht besonders zufrieden war und diese Jahre als schwierigste in seiner Zeit in den USA bezeichnet. Er wechselte 1980 zur Universität Yale an die Ostküste. Hier machte er seinen Doktor in Philosophie und bekam eine Stelle als ‚assistant professor‘ und bald eine unbefristete Stelle.
In Yale lehrte er russische Dichtung, polnische Literatur und litauische Sprache.

Er bereiste über 100 Länder, konnte schon 1988 wieder nach Moskau reisen, um von dort aus auch Litauen zu besuchen. Damals ahnte niemand, dass Litauen 1990 wieder ein freies Land werden würde.
Tomas Venclova ist deshalb eine so faszinierende Persönlichkeit, weil er ein Universalgelehrter ist, ein liberaler Weltbürger, der sich für das friedliche Miteinander von Kulturen und Ländern einsetzt.

Auf meiner Webseite ist eines seiner Bücher „Vilnius. Eine Stadt in Europa“ rezensiert, sowie sein Essay „Ich ersticke“ über den litauischen Nationalismus erschienen.
Venclova setzt sich gegen Kleingeistigkeit, Nationalismus und Antisemitismus ein. Er nennt die Dinge aber auch beim Namen. Ich bin vor Jahren mit meiner besten Freundin durch Vilnius gelaufen, als wir polnische Stimmen hörten. Ein paar Frauen diskutierten lauthals. Meine Freundin war verärgert und meinte, wir sind hier in Litauen, Vilnius, da solle man doch bitte Litauisch sprechen.

Erst mit etwas Geschichtsverständnis, hier kann die Lektüre von Venclovas Werken helfen, bekommt man die andere Seite der Wahrheit zu sehen. Vilnius ist nämlich eben keine rein litauische Stadt. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten in Vilnius nur ca. 3 % Litauer, die restliche Bevölkerung war jüdisch oder sah sich als polnisch an. Nachdem die Nazis (zusammen mit litauischen Freiwilligen) die Juden ermordet hatten und die Polen aus der Stadt vertrieben hatten, kam es zu einem kompletten Bevölkerungsaustausch.
In rechten Kreisen in Litauen ist er deshalb nicht besonders gelitten. Wie hier in einer Diskussion im Litauischen Historischen Clubs auf facebook, bei der die Diskussionsteilnehmer Venclova als Juden, Sohn eines Kollaborateurs und Dissidenten beschimpfen. https://alles-ueber-litauen.de/litauen-geschichte/telsiai-judenmord/telsiai-rainiai-massaker

 

Ein paar Zitate:
„Im Licht der damaligen Situation machte die Sowjetunion, zumindest auf einige, nicht den schlechtesten Eindruck. … Die Sowjetunion unterstützte Litauens Anspruch auf Vilnius, wenn auch nur deshalb, weil Polen der Erzfeind Russlands war. Freilich, die Sowjets waren brutal, aber das ganze Ausmaß ihrer Verbrechen war in Litauen damals noch nicht bekannt.“

1940 forderte Stalin Truppen in Litauen stationieren zu dürfen. „Die litauische Regierung erkannte, dass Widerstand zwecklos war, und kapitulierte. Smetona war dagegen, wurde zum ersten und letzten Mal während seiner Herrschaft überstimmt.“ Litauen wurde so ohne Gegenwehr an die Sowjetunion übergeben.

„Langsam und unerbittlich wurden die strenge stalinistische Ordnung, Ideologie, Rhetorik und Zensur eingeführt, mit dem Ergebnis einer erbärmlichen Verwahrlosung, Eintönigkeit und Uniformität – einer Gleichschaltung, um es auf Deutsch zu sagen.“ Es kam zu Verhaftungen und Erschießungen.
„Obwohl willkürliche Verhaftungen und Mord nie legitim sind, betrachteten bestimmte Linke diese Gewalt damals als Vergeltung, weil Smetona seine Feinde verhaften und bisweilen hinrichten ließ.“

Im Gegensatz zur litauischen Geschichtsauffassung des doppelten Genozids meint Venclova:
„Tatsächlich hat Stalin, wie bereits erwähnt, in den baltischen Staaten einen Stratozid, keinen Genozid verübt. Darunter hatten alle ethnischen Gruppen, einschließlich der Juden (sowie Polen und Russen), in einem ähnlichen Ausmaß zu leiden. Aber den ‚Nashörnern‘ ist es gelungen, die Deportationen als Ergebnis einer finsteren jüdischen Verschwörung gegen das litauische Volk darzustellen. Als Argument diente ihnen die Präsenz von Juden in der Geheimpolizei, die natürlich auch Litauer, Russen und Polen beschäftigt hat – und hätte es in Litauen Marsmenschen gegeben, hätte Stalin ohne zu zögern sicherlich auch einige von ihnen verpflichtet.“

„Ich verurteile nicht jene, die für ihr Land gekämpft haben, aber nicht an Pogromen teilgenommen haben, auch solche Menschen hat es gegeben. Doch es ist schwer, nach so vielen Jahren zwischen ihnen und den Kollaborateuren zu unterscheiden – und die Unterschiede waren selbst zum Zeitpunkt des Aufstands nicht klar.“

„Als Litauen wieder unabhängig wurde, war ich zutiefst beunruhigt, dass die rechtsgerichtete Version dieser Ereignisse fast überall vorherrschte – in der Presse, in den Schulbüchern, in der öffentlichen Meinung. Die Baltaraiščiai wurden als Helden der Nation gefeiert, und es gab Versuche von offizieller Seite, die nazifreundliche Regierung als legitim und ruhmreich darzustellen.“

Ich könnte fast unendlich so weitermachen, aber der Leser kann sich das Buch ja kaufen.

 

Zum Schluss möchte ich Ellen Hinsey aus ihrem Vorwort zitieren:
„Abschließend sei gesagt, dass Tomas Venclova und ich zwar versucht haben, das Buch so umfassend wie möglich zu gestalten, doch glauben wir beide nicht, daß der Mensch lediglich die Summe seiner Lebenserfahrungen ist oder diese den „Werdegang eines Dichters“ erklären können. …
Wie Achmatowas Überzeugung, dass alle große Lyrik ‚ein Mysterium enthalten muss‘, hoffen wir, dass Der magnetische Norden- wie ein Werk von Rembrandt van Rijn, den Mandelstam einmal den ‚Vater der grünschwarzen Dunkelheit‘ genannt hat- in seinen Tiefen trotz allem jene Geheimnisse bewahrt, die sich, wenn überhaupt, nur in Venclovas Versen entdecken lassen. Denn das Leben besteht auch aus Dingen, die sich nur indirekt erschließen, die der Lichtstrahl des Leuchtturms in der Nacht nicht erreicht und die trotzdem ein spürbarer Teil der Erfahrung sind – ganz gleich, ob tragisch oder froh, gehören auch sie zu den magnetischen Eisen und der Anmut des Lebens.“

Sehr zu empfehlen!

 

Mehr von Tomas Venclova:

Ich ersticke (Deutsch)

as dustu (Ich ersticke auf Litauisch)

Litauen, Nationalismus und EU

Vilnius Eine Stadt in Europa  (Eine andere Art Stadtführer über Vilnius)

 

 

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