Offene Wunden Osteuropas
Reisen zu den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs
Franziska Davies und Ekaterina Makhotina
Das 2022 erschienene Buch der beiden Historikerinnen, Davies lehrt an der Ludwig-Maximilian-Universität München, Makhotina an der Universität Bonn) kam in unruhigen Zeiten heraus, in denen Russland seine Nachbarn angreift und nach 1941 wieder Bomben in Babyn Jar einschlagen, ein Ort, in dem die Deutschen 33.771 Juden ermordeten.
Die Autorinnen äußern deshalb ihr Bedauern, trotz des Leids, den die Ukrainer momentan erfahren, auch unschöne Details der Beteiligung der Osteuropäer an der Ermordung der Juden schildern zu müssen.
Die beiden Osteuropa Expertinnen unternahmen mit ihren Studenten Studienfahrten in verschiedene Städte in Europas Osten, in denen während der deutschen Besatzungszeit Massaker an Juden, aber auch Roma und politisch Verfolgte verübt wurden. Offene Wunden und Erinnerungsorte.
Warschau, beim Einmarsch der Wehrmacht machten lebten 330.000 Juden in der Stadt, etwa ein Drittel der Einwohner. Sofort führten die Nazis Ghettos ein, in denen Judenräte die Arbeit der Besatzer unterstützen sollten. Die jüdische Ghetto Polizei bestand oft aus Konvertiten, die selbst antisemitisch waren.
„Die jüdische Polizei ist oft grausamer als die Deutschen, Ukrainer und Letten. Sie haben mehr als ein Versteck aufgedeckt und versuchten katholischer als der Papst zu sein, um sich bei der Besatzungsmacht beliebt zu machen.“ S. 34
Der Judenrat war verhasst, Marcel Reich-Ranicki sieht im Vorsitzenden des Judenrates aber auch etwas anderes als der Erfüllungsgehilfen der Nazis. Immer mehr Juden werden ermordet und wollen nicht trotzdem nicht glauben, dass ihnen der Tod droht. Als bei der Ghettoauflösung nach den letzten verbliebenen Juden gesucht wird, kommt es zum bewaffneten Aufstand. Den die Nazis mit brutaler Gewalt niederschlagen. Zusammen mit der Wehrmacht.
Beim Lesen überkommt mich öfter das Gefühl der Scham, wie Deutsche als Kulturnation anderen Menschen derart schlimmes antun konnten.
Als die Rote Armee schon vor den Toren Warschaus stand, versuchte die polnische Heimatarmee die Kontrolle über die Stadt zu gewinnen und begann den „Warschauer Aufstand“. Dieser wurde brutal niedergeschlagen. Als die Polen vor den Deutschen kapitulierten, waren zwischen 150.000 und 200.000 Zivile Opfer zu beklagen und etwa 16.000 Mitglieder der Heimatarmee (Armija Krajowa).
Vor den Toren Warschaus wartete die Rote Armee auf den Ausgang des Massakers. Tote Polen kam den Sowjets entgegen.
Wer heute Warschau, aber auch Danzig bereist, sollte daran denken, dass die Städte nach dem Krieg vollständig neu aufgebaut werden mussten. Da stand nichts mehr, was man besonders in Danzig kaum glauben kann.
„Wer die Traumata unserer polnischen Nachbarinnen und Nachbarn verstehen will, wer sich mit der Erinnerung an die verlorene Welt des polnischen und europäischen Judentums auseinandersetzen will, der muss nach Warschau reisen.“ S. 61
Lwiw, die wunderschöne polnisch-jüdische Stadt in der Südukraine. Früher hatte sie einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 30 %.
°Denkmäler für Personen, die im Zweiten Weltkrieg furchtbare Verbrechen begangen haben, sind heute in sehr vielen Städten der Westukraine zu finden. In der populären Erinnerungskultur wird nur an den anti-sowjetische Widerstand dieser Menschen erinnert, ihre Beteiligung an der Ermordung der jüdischen und polnischen Bevölkerung dagegen ausgeblendet. Am bekanntesten ist die Verehrung von Stephan Bandera, jenem faschistischen Anführer, der von einer ethnisch homogenen Ukraine träumte. Auch in Lwiw gibt es von ihm eine überdimensionale Statue. Für jüdische Ukrainerinnen und Ukraine ist das wie ein Schlag ins Gesicht. Bandera in der Ukraine, Kazys Skirpa und Jonas Noreika in Litauen.
Beim Einmarsch der Wehrmacht kam es zu Pogromen bei der vier bis achttausend Juden ums Leben kamen.
„Historiker haben herausgefunden, dass es sich bei diesem Pogrom um ein öffentliches Spektakel mit karnevalesken Elementen handelte, bei dem Teile der Stadtbevölkerung nicht nur als Zuschauerinnen und Zuschauer in Erscheinung traten, sondern auch selbst misshandelten und töteten.“ S. 75
Die beim Einmarsch angefachte Propagandamaschine ist sehr makaber, wenn man die Details kennt. Davies und Makhotina beschreiben sie ausführlich, Hannes Heer berichtete in einem Artikel in der Zeit 2001 darüber.
Babyn Jar, der Ort bei Kiew, an dem eines der größten Massenmorde in Osteuropa begangen wurde und wo es lange keinerlei Erinnerung an die fast 34.000 Tote gab. Die Ukraine war eines der Hauptplätze des deutschen Vernichtungskrieges… “diese Tatsache ist bis heute vielen Deutschen nicht bewusst.“ S. 96
Aus einem Lagebericht der SS:
…“Die gegen die Juden durchgeführte `Umsiedlungsmaßnahme´ hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden. Daß die Juden tatsächlich liquidiert wurden, ist bisher kaum bekannt geworden, würde auch nach den bisherigen Erfahrungen kaum auf Ablehnung stoßen. Von der Wehrmacht wurden die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheißen.“ S.99
Weißrussland, ein Land, von dem die meisten nicht wissen, welches Leid wir den Menschen dort zugefügt haben. Meistens sagen Zahlen nicht viel aus. Aber ein Großteil der Städte wurde zerstört, 1,7 Millionen Menschen von 9 Millionen Einwohner ermordet. Die Autorinnen sind durch ihre Biografien, die sie offen im Buch mitteilen, vielfältig mit der deutschen Besatzung im Osten verwoben. Familienmitglieder sind getötet worden, weil sie Juden waren. Teilweise mussten sie nicht nur unter den Deutschen leiden, sondern auch unter den Sowjets. Oder litten im belagerten Leningrad.
Andere standen auf der Seite der Besatzer und haben sich an der „Partisanenbekämpfung“ beteiligt oder waren einfach deutsche Nazis. Das ist reale Geschichte und kann nicht mehr geändert werden.
Umso wichtiger ist es, unsere Geschichte ehrlich zu erzählen. Was eine fehlende Aufarbeitung der eigenen Geschichte (die in Litauen an Heldenverehrung von Nazikollaborateuren deutlich wird) zeigt sich in Russland. Eine Diskussion über die Verbrechen von Stalin und den sowjetischen Führern ist tabu.
Stalingrad, die Schicksalsstadt der Sowjets und der Deutschen. Die Deutschen kamen, um die Menschen zu vernichten. Letztlich verteidigten die Sowjets auf schwierigem Terrain ihre Stadt. 300.000 Deutsche kamen in Stalingrad und der folgenden Gefangenschaft um. Bei der Kapitulation waren die Überlebenden Soldaten dem Tod näher als dem Leben. S. 144
Empfehlenswert dazu auch die Schilderung über den Zustand der eingekesselten deutschen Soldaten im Buch "Stalingrad" von Joachim Wieder und Heinrich Graf Einsiedel.
Leningrad
Während uns die Geschehnisse in Litauen während der deutschen Besatzung bekannt sind, habe ich mir bisher über die Besatzung Leningrads wenig Gedanken gemacht und auch das Leid der Menschen war mir nicht so bewusst. Wie die ganze Sowjetunion, war auch Leningrad zum Aushungern bestimmt. Während der 871 Tage dauernden Besatzung starben 1 Millionen Menschen. Hitler wollte die komplette Stadt vernichten.
Vilnius und Kaunas
Die Leser dieser Webseite kennen wahrscheinlich viele Details der beschriebenen Gräueltaten, die die Deutschen mit den Litauern in Litauen, besonders Vilnius und Kaunas aber auch an 200 Erschießungsorten in ganz Litauen angerichtet haben. Das in Litauen sehr schnell getötet wurde und auch jüdische Kinder nicht verschont wurden. Dass es wenige Verwaltungsbeamte und ca. 600 deutsche Soldaten geschafft haben 95% der litauischen Juden zu ermorden. Wie konnten die das schaffen, ohne Landeskenntnis mit so wenig Leuten?
„Offene Wunden Osteuropas“ beantwortet diese Fragen und zeigt auch die heutigen litauischen Probleme mit ihrer eigenen Beteiligung auf. Ob es das 9. Fort ist, in dem nicht eindeutig an den Holocaust und seine Täter erinnert wird oder an die litauische Verfolgung von ehemaligen jüdischen Partisanen die 2008 tatsächlich noch von der litauischen Generalanwaltschaft angeklagt wurden.
Das Buch erwähnt viele Litauer und Litvaks, deren Bücher schon von uns rezensiert wurden.
Die wenigen Überlebenden des ehemaligen „Testgeländes für den Holocaust“ haben heute noch mit litauischen Nationalisten zu kämpfen. Immer noch werden Kollaborateure der Nazis verehrt, Hauptsache man war gegen die Sowjets.
Über 1941:
„Die Kollaborationsbereitschaft von Teilen der Bevölkerung ist erschreckend. Entsprechend der massenhaften Beteiligung und der brachialen Gewalt, lässt sich von einer „unsystematischen Massengewalt“ [planlos, unorganisiert] der Litauer an ihren jüdischen Nachbarn sprechen.“ S. 181
„Während das Wehrmachtspersonal auf dem litauischen Gebiet nicht mehr als 600 Deutsche umfasste, gab es etwa 12.000 litauische Polizisten. Bereits in den ersten Kriegstagen wurden Teile des litauischen Militärs als das reguläre „Nationale Arbeitsschutzbataillon" [TDA] reorganisiert. In Polizeibataillons zusammengefasst, waren sie für das Patrouillieren, Wachestehen, die Sicherung ihrer Bezirke vor „Banden" bzw. „Terroristen" und zur Partisanenbekämpfung bzw. bei Vergeltungsaktionen gegen die Zivilisten in Litauen und Belarus eingesetzt. Die 3. und 4. Kompanie des Bataillons und die „Sondereinheit" {ypatingasis būrys) stellten auch das Personal für die Erschießungskommandos. Die Meldung zu den Einheiten war freiwillig, und niemand wurde sanktioniert, wenn er an der Exekution nicht teilnehmen wollte.“ S. 183
Rechts der TDA Mann
Eine Figur in Kleidung eines TDA-Mannes (Litauisches Arbeitsbataillon) steht im Militärmuseum in Kaunas. Ohne irgendwelche Erklärungen, aber neben Bilder von Größen der litauischen Partisanen.
Die Zahl von 6 Millionen getöteten Juden oder 13 Millionen Opfern oder sogar 50 Millionen bewegen die meisten Menschen nicht wirklich. Es sind Zahlen, die unser Verstand nicht verstehen kann.
Einzelschicksale verdeutlichen die Unmenschlichkeit besser:
Abtransport nach Paneriai, einem der größten Stätten des Massenmords in Litauen, aus dem Tagebuch von Mascha Rolnikaite:
„Ich gehe hindurch [das Ghettotor J. Ein Soldat packt mich am Mantel und stößt mich zur Seite. Ich drehe mich um, will es der Mama sagen, aber sie ist nicht da. Ich erkläre [dem Soldaten], dass man mich irrtüm¬lich von meiner Mutter getrennt hat. Sie stehe dort drüben. Da sei meine Familie, und ich müsse zu ihr.
Plötzlich höre ich Mamas Stimme. Sie schreit, ich soll bloß nicht zu ihr kommen. Und den Soldaten bittet sie, mich nicht durchzulassen, weil ich noch jung sei und gut arbeiten könne ...
,Mama!', schreie ich, so laut ich kann., Komm du zu mir!' Sie schüttelt nur den Kopf und ruft mit einer seltsam heiseren Stimme: ,Lebe, mein Kind! Wenigstens du sollst leben. Nimm Rache für die Kleinen!'
Sie beugt sich zu ihnen hinunter, sagt etwas und hebt sie mühsam nacheinander hoch, damit ich sie sehe. Ruwele [Maschas kleiner Bruder] blickt mich so merkwürdig an. Er winkt mit den Händchen."
Davies und Makhotina beschreiben auch das Gefühl der Schuld der überlebenden Juden. Mussten sie doch für die Deutschen die grausamsten Dinge tun, wie Alex Faitelson, der im 9. Fort bei den Leichenbrennern eingesetzt war. Oder wurden in den wenigen späteren Prozessen gegen die Mörder auch noch gedemütigt.
Auch wenn Litauen ein gutes Verhältnis zu Israel hat und es Museen über den Holocaust gibt, Tafeln der Erinnerungen an vielen der 200 Erschiessungsstätten, besonders denke ich da an Birzai, kommt es im Verhältnis zwischen Liberalen und Konservativen immer noch zu nicht nachvollziehbaren Spannungen. So werden Nazikollaborateure weiter verehrt, Straßen und Schulen nach ihnen benannt und eine Plakette von Jonas Noreika darf neben der Kathedrale in Vilnius hängen. Der Noreika, der die Errichtung des Ghettos in Siauliai unterzeichnet hat.
Jonas Noreika Tafel in Vilnius
Chatyn, Pirciupiai und Korjukiwka
Chatyn, die Gedenkstätte die exemplarisch an die 672 vernichteten weißrussischen Dörfer erinnern soll. Pirciupiai, ein litauisches Dorf bei Druskininkai. Einer der im Vergleich zu anderen von den Nazis besetzten Gebieten wenigen von Deutschen zerstörten Dörfer in Litauen. Eindrucksvoll ist die Mutter von Pirciupis, ein Denkmal an die toten Litauer, aber auch die Änderung der Erinnerungskultur.
Mutter von Pirciupiai. Hier töteten die Deutschen 1941 alle Dorfbewohner
Heute gibt es dort kein Museum mehr, das Andenken an die deutsche Vernichtung wird nicht gepflegt. Die Gräuel der Nazis (und der Kollaborateure) verblassen, die Taten der Sowjets und das Leid der Litauer wird hervorgehoben.
Besonders jetzt, wo der russische Krieg gegen die Ukraine tobt.
Belzec und Majdanek
In Belzec wurden 500.000 Menschen ermordet. Nur 2 überlebten, einen davon erschossen Partisanen 1946, bevor er vor einer Kommission aussagen konnte. Prozesse gegen die Täter waren deshalb noch schwieriger. Erst in letzter Zeit reicht es Sekretärin oder Wachmann in einem KZ gewesen zu sein, um vor deutschen Gerichten verurteilt zu werden. Wobei es auch da noch Ausflüchte gibt, man hätte nicht gewusst, was innerhalb der Mauern und Stacheldraht passierte. Makaber auch, was die Autorinnen über den späteren Umgang mit den Gräbern und auch der Opfer berichten.
Das Buch „Offene Wunden Osteuropas… Reisen zu den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ verbreitert unser Wissen über unsere Taten in Osteuropa und das Leid der Menschen dort. Die Details über Leningrad, die Konzentrationslager und die Verwüstungen in Weißrussland sind unvorstellbar.
Was mich persönlich störte, ist die teilweise etwas schwierige Ausdrucksweise, die mir schon in Makhotinas Buch „Erinnerungen an den Krieg-Krieg der Erinnerungen“ aufgefallen ist. Und ob es wirklich nötig ist so stark zu gendern…andere Medien vereinfachen z.B. mit Pol:innen. An einer Stelle des Buches steht: “Ein Lager, in dem Juden und Jüdinnen, sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Sinteze und Romnja und Roma aus ganz Europa getötet wurden“. Das macht die Lesbarkeit nicht besser.
Das Buch hat mittlerweile viele Preise gewonnen und ist ein wichtiger Beitrag für die Erinnerungskultur der Orte in Osteuropa, in denen Deutschland unglaubliche Gräuel verursacht hat.
Kaufempfehlung!
Wie immer: haben Sie Anmerkungen oder wollen eine eigene Rezension schreiben, gerne über das Kontaktformular melden.