Litauische Claviere

Von Johannes Bobrowski

Johannes Bobrowski

 

Der Autor Johannes Konrad Bernhard Bobrowski stammt aus Tilsit, dem heutigen Sowjetsk. Seine Großeltern lebten auf der nördlichen Seite der Memel (Nemunas) in Willkischken (Vilkyškiai) und er besuchte sie regelmäßig. Er war also ein guter Kenner der dortigen Lebensumstände, die geprägt waren vom Zusammenleben der Deutschen und den Litauern.

Die Germanistin Anna Pastuszka meinte, Bobrowski wollte "... nach dem Untergang seines Heimatlandes in der...vertrauten Form...den so nicht mehr existenten Kulturraum als Erinnerungslandschaft in Gedichten, autobiographischen Schriften und fiktionaler Prosa...beschwören und ins öffentliche Bewusstsein...holen". Was er mit "Litauische Claviere" gut schafft.

Das Gebiet nördlich der Memel, ein Streifen Land bis zum heutigen Klaipeda, gehörte sehr lange zu Deutschland, wurde aber als Retourkutsche für die Demütigungen des Deutsch-Französischen Krieges (Abtretung Elsass-Lothringens an Deutschland) nach dem verlorenen 1. Weltkrieg von den Franzosen annektiert. 1923 wurde das Memelland von litauischen Freischärlern übernommen, auch weil die Franzosen ihres Postens dort überdrüssig waren.

Das Memelland gehörte also jetzt zu Litauen, hatte aber eine deutsche Bevölkerungsmehrheit und allgemein den Wunsch zu Deutschland zu gehören, sogar von den meisten Memelländern, die eigentlich ethnische Litauer waren.

Die Handlung beginnt am 23. Juni 1936 und endet mit dem Mittsommertag/ Johannestag am Tag darauf. Wie man an der obigen Einleitung merkt: hier ist viel Geschichte im Spiel. Ein Vorteil beim Lesen ist, wenn man etwas von der erzählten Geschichte kennt. Andererseits kennt man sie dann nachher!

1936 waren die Nationalsozialisten in Deutschland schon drei Jahre an der Macht. In Litauen herrschte auch zunehmend eine nationalistische Stimmung (Gelezinis Vilkas/Voldemaras Bewegung) die auch ins Memelgebiet drang.

 

In diesen unruhiger werdenden Zeiten machen sich zwei gelehrte Kunst- und Menschenfreunde mit der Schmalspurbahn auf den Weg über die Memel ins Dorf Bittenai und Willkischken (Vilkyškiai). Dort möchten sie den Lehrer Potschka besuchen, ein Sammler litauischer Lieder. Sie hoffen auf Inspirationen durch ein ursprüngliches Litauen für eine geplante Oper über den Pfarrer Donelaitis.

Donelaitis gilt als Autor des ersten weltlichen Buches in litauischer Sprache.

"Fahren wir hin ... und sehen wir selber." Gesunde Einstellung.

Leider erfahren die Herren Konzertmeister Gawehn (selbiger ist skeptisch ob des Projektes, sieht er doch den unwiderruflichen Untergang des litauischen Volkstums im Memelland und die vormals idealistischen Ideen des multiethnischen Zusammenlebens der Philologenkaste des vorigen Jahrhunderts geschrumpft auf wenige Herren wie Professor Voigt und Wilhelm Storost) und der Gymnasialprofessor Voigt schon bei ihrer Abreise aus Tilsit, wie es um das Miteinander der Deutschen und Litauer steht.

Unter Voigts Wohnung ist eine bessere Kneipe. Hier findet gerade eine Betriebsfeier statt. Der engagierte Unterhaltungskünstler Elisat, Litauer, weiße Haare, vormals Musikdirektor, spielt Klavier und singt, fällt aber immer wieder vom deutschen Gesang ins litauische zurück. Das gefällt dem SA Uniform tragenden, vom städtischen Aktienbier gestärkten Assistenten Lenuweit nicht besonders, er haut dem alten Elisat ein Halbliterglas Bier von hinten auf den Kopf. Voigt ist entrüstet, muss sich aber beeilen, um seinen Zug zu bekommen. Unterwegs begegnen wir dem Hitlergruss ... das neue Deutschland ist in Ostpreussen angekommen.

Fährt auch mit im Zug über die Memel. Die deutschen Fahrgäste teilen nämlich nicht Professor Voigts Empörung. Lenuweit hätte immerhin Uniform getragen!

In Bittehnen besuchen sie den Lehrer Potschka, der wie Voigt über einer Gaststätte wohnt. Sie bitten ihn um seine Mithilfe bei der geplanten Oper über Donelaitis.

 

Wegen den Feiertagen Johannes und Mittsommertag sind Litauer und Deutsche unterwegs und feiern. Die Deutschen in Plattners Wirtschaft (unter Potschkas Wohnung) , die Litauer auf dem nahen heiligen Berg Rambynas, von dem man einen wunderbaren Blick auf die Memel/Nemunas und das ferne Tilsit/Sowjetsk hat.

 

Als Redner vorgesehen ist Rechtanwalt Neumann, Chef der Nazi Partei aus Memel/Klaipeda, angereist mit seinen Nazi-Freunden.

Es wird getuschelt, dass ein Litauer was mit einem deutschen Mädel hätte, was unbedingt unterbunden werden müsse. Nationale Schande...deutsche Ehre!

Voigt und Gawehn sprechen mit Potschka über die Donelaitis Oper. Donelaitis war Pfarrer in Tolmingkehmen in einer litauischen Gemeinde. Er beschrieb "seine" Litauer im Buch "Metai" und setzte ihnen damit ein Denkmal. In Tolmingkehmen gibt es keine Litauer mehr. Ihre Kultur wird zunehmend durch deutschen Druck von Süden nach Norden zurückgedrängt.

 

Als Voigt auf den Memelländischen Nazichef Neumann trifft, prahlt dieser, hier gäbe es noch richtig deutsche Dörfer. Wobei Voigt doch extra wegen litauischen Dörfern gekommen ist.

 

Gawehn ist von der Opernidee nun begeistert und fährt voller Tatendrang zurück nach Tilsit, während Voigt sich mit dem Automobil nach Bittehnen zu der dortigen Feier in der Gaststätte Wythe bringen lässt. Auch Rechtsanwalt Neumann mit seinen Kumpanen ist schon da. Voigt mag ihn nicht. Dafür aber die bestellte Portion Schmand mit Glumse!

Voigt geht zu den Litauern auf den Rambynas und trifft Potschka. Vaterländisches, Kaffee und Besoffene hat er nun schon hinter sich.

Aber auch Potschka ist nicht zufrieden mit seinen Litauern. Trampeln sie doch auf dem Vytautas Stein rum und träumen wieder von der alten Herrschaft unter Vytautas dem Großen, der ein Reich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer beherrschte.

 

Auf dem Rambynas trifft Voigt auf Wilhelm Storost, genannt Vydunas und den Redakteur Saluga. Sie unterhalten sich auf Litauisch und Deutsch. Saluga sieht Voigts Bemühungen zu seiner Donelaitis Oper skeptisch. All die gelehrten Deutschen, die sich aus Deutschland für die litauische Kultur engagiert haben...vorbei. Was bleibt ist ein imaginäres Volkskundemuseum. Weil es seit ein paar Jahren einen eigenen litauischen Staat gibt?Bittehnen

Voigt beharrt auf seiner Oper. Er möchte den Schaden des deutschen kulturellen Vordringens aufzeigen, "Die Reinheit der Sitten schwinde mit dem Vordringen der Deutschen" und "Deutsch- das sei aus Stehlen und Fluchen zusammengesetzt".

 

Da tauen Storost und Saluga auf.

Zurück in den Gasthof bei Wythes. Dort spricht Rechtsanwalt Neumann, Nazichef, über die Probleme mit den Grenzen. Alles unnatürlich. Man kann nicht mal eben rüber, obwohl da noch das Elterngrab ist. Und heute nichts mehr. Tatsächlich wohnt Neumann immer noch in Memel, genau wie seine Eltern früher.

Untermenschen, Internationales Judentum, Polen, Russen. Das Übliche. Zeitlos!

 

Einige Deutsche zetteln mit den Litauern eine Prügelei an, bei der durch einen Unfall ein Deutscher stirbt. Nur Voigt meldet sich als Zeuge, die anderen leugnen etwas gesehen zu haben.

Dann kommt das Dampfboot, das Professor Voigt zurück nach Tilsit bringen soll.

 

Potschka macht derweil einen Ausflug auf ein Holzgerüst, einen Trigonometrischen Punkt, der irgendwo zwischen Tilsit, Rambynas und was auch immer noch steht. Er fühlt sich verfolgt...eine Person klettert ihm nach. Von oben sieht er Männer mit Perücken, Donelaitis und sein Freund Sperber.

 

"Ach daß Gott sich erbarm, es kämmen die gnädigen Herren

immer noch weiter des Bauerns Fell nach dem letzten Groschen.

Oh unersättlich ist ja der Geiz des derzeitigen Amtsrats.

Würd er womöglich doch einmal dem Bettler nur schenken ein Gröschlein,

könnt er ob solcher Verschwendung drei volle Nächte nicht schlafen,

weinen müßt er in aller Frühe schon  terste Tränen,

weil der gegebene Pfennig als blanke Sünd ihm

erschiene

gar in den Träumen, um ihn, den Bedauernswerten zu quälen.

Brüder, ihr kennt ja die Gnadenbezeichnung der Herrschaft,

unser Verdienst ist allein, die Arbeit getreulich verrichten,

während der Herr es sein Recht nennt, die

Bauersleute zu jagen,

hierhin zu stoßen und dorthin, als sei’n es

verlaufene Hunde.

Oh du selbstsücht’ger Tyrann, du Schmerbauch,

dem wüst sich das Haar sträubt,

der wie ein züngelnder Blitz umherschlägt und

Schrecken verbreitet,

hast du denn anders begonnen als einer der

Armen auf Erden,

hat eine Mutter dir nicht wie jedem den Hintern

gewaschen!

Denke, daß Gott dich sieht, wohin auch die Schritte du lenkest,

daß, wie du uns vor den deinen, vor seinen

Stuhl er dich ziehn wird.     [Donelaitis Metai]

 

 

Voigt und Storost schauen, im Boot sitzend, zurück. Das Herz voll Ratlosigkeit. „Was soll man nur tun?“

Und wieder Potschka auf seinem Turm, auf den noch jemand anderes klettert. Potschka träumt weiterhin von den Figuren in „Metai“.

Fazit:

„Die litauischen Claviere“ werden die meisten Leser ordentlich herausfordern. Schnell durchlesen und sich auf die Handlung freuen, das funktionierte zumindest bei mir nicht. Nach dem ersten Durchgang musste ich mir eingestehen, eigentlich außer den litauisch-deutschen Reibereien nichts verstanden zu haben.

Also wurde das Büchlein ein zweites Mal gelesen. Danach nahm ich das Buch „Understanding Johannes Bobrowski“ von David Scrase zur Hilfe. Hatte aber das Gefühl, Scrase ist auch nicht viel weiter mit dem Verstehen.

Bobrowski kann die Stimmung sehr gut beschreiben, auf der einen Seite das Erstarken der Nationalsozialisten im litauischen Memelland, deren Hoffnung bald wieder ins „Reich“ zu kommen und auf der anderen Seite die Nationalisten der Voldemaras Bewegung, die stolz auf Litauens Herrschaft über große Teile Europas (vor 500 Jahren) sind und von der Wiedererlangung derselben träumen. Männer in SA-Uniformen können da problemlos litauische Klavierspieler erschlagen oder es werden Falschaussagen gemacht, wenn jemand durch einen Unfall stirbt. Viele Deutsche sind bei Bobrowski schon Nationalisten, bei denen Recht und Menschlichkeit zugunsten eines primitiven Patriotismus zurücktreten muss.

Bobrowski lässt den Redakteur Saluga sagen, dass die ganzen deutschen Gelehrten, die sich für die litauische Kultur interessierten, Geschichte sind. Ja, Professor Voigt und Storost sind noch da, aber ansonsten ist da nicht mehr viel. Weil es nun einen litauischen Staat gibt? Vor 1918 gehörte Litauen zum Russischen Reich und davor zum Litauisch-Polnischen Reich, polnisch dominiert. Während der russischen Besatzung wurde die litauische Kultur stark unterdrückt, zeitweise sogar die Schriftsprache verboten. Es entstand ein reger Bücherschmuggel eben aus Königsberg und dem Memelland.

Die vielen Zitate aus Donelaitis „Metai“ lassen den Wunsch aufkommen, dessen Buch auch noch einmal zu lesen. Sind ja auch nette derbe Sprüche über „seine“ Litauer darin.

 

Aber dann gibt es mit Potschkas Träumereien von Donelaitis lange Stellen, wo zumindest mir nicht klar ist, was das soll. Auch der Schluss (und in David Scrases Buch wird sogar spekuliert, „Litauische Claviere“ wären vielleicht gar nicht beendet worden) bleibt verwirrend.

Nimmt man Bobrowskis Buch als Beschreibung der sich abzeichnenden Katastrophe des 20. Jahrhunderts, mit der auch die friedliche Koexistenz der Deutschen und Litauer in Preussen, Kleinlitauen, Memelland oder wie auch immer man den Streifen Erde von Königsberg bis Memel (Kaliningrad bis Klaipeda) nennen möchte, dann kann ich das Buch sehr empfehlen. Wahrscheinlich wird so mancher mit mehr Literaturverstand den tieferen Hintergrund den Bobrowski abbilden wollte, besser erkennen.

 

Eure Rezensionen sind sehr willkommen!