Vilnius

Vilnius City of Stranger  Vilnius


City of Strangers     Laimonas Briedis 2008 Englische Ausgabe, Deutsche Ausgabe 2017



Vielleicht kann man Laimonas Briedis Buch "City of Strangers" am besten als Sammlung von Erwähnungen der Stadt Vilnius in Beschreibungen von vielen Reisenden in fünf Jahrhunderten sehen. Zusammengefügt und erläutert vom Autor, so dass der Leser die Entwicklung der Stadt Vilnius, aber auch der Länder Litauen, Polen, Weißrussland und Russland mit vielen unbekannten Details erfahren kann.

Also eher keine Tipps für den schnellen Vilniusbesucher, sondern eine umfangreiche Beschreibung der Geschichte der Stadt. Die englische Ausgabe (Briedis lehrt als Historiker in Kanada) erschien schon 2008, die deutsche Ausgabe kam 2017 im österreichischem Wieser Verlag heraus.

Eine von Briedis ersten Feststellungen ist, dass Vilnius nie eine einzelne Identität besessen hatte.
Verschiedene Nationalitäten haben sich hier getummelt und teilweise völlige unterschiedliche Eindrücke von Vilnius gehabt.


Am Anfang steht Großfürst Gediminas, der Vilnius als seine Residenzstadt aussucht, weil die Lage im Kernland von Litauen, gut geschützt zwischen zwei Flüssen, Sumpfgebiet und dichten Wäldern, zusammen mit einer guten Armee, guten Schutz gegen Eindringline bot. [Das unterscheidet Vilnius von allen anderen großen Städten im Baltikum, die alle als Außenposten der fortschreitenden Christianisierung entstanden sind und oft Hansestädte waren.]


Mit der Gründung der Stadt lud Gediminas Händler, Handwerker, Ritter und Kirchenleute aus aller Welt ein, sich bei Religionsfreiheit und kulturellen Privilegien, in Vilnius niederzulassen.
Ausgenommen waren die "Kriegermönche" von den Deutschrittern.
Als der Papst Abgesandte schickte, um Gediminas zum Christentum zu bekehren fragte der zurück, wo es denn mehr Elend, Ungerechtigkeit, Gewalt, Sünde und Gier geben würde als im Christentum.
Es kommt zu neuen Kreuzzügen, der ach so moralischen Kreuzritter gegen die heidnischen Litauer. Wir erfahren die damaligen Reisebedingungen in Litauen (beschwerlich), wie die Kreuzzüge organisiert waren und wer daran teilnahm. Vielleicht ähnlich wie die Elefantenjagd in Afrika für heutige europäische Adlige.


Gediminas starb bei einem der Kreuzzüge und erst die Heirat von Großfürst Jogaila (damals 40 Jahre alt) mit der erst 12-jährigen Königin Jadwiga von Polen schaffte durch die Vereinigung von Litauen mit Polen genug Kraft, um zusammen die Kreuzritter zu bekämpfen.
Jogailas Vetter Vytautas führte wiederum in dieser Zeit einen der erfolgreichsten Angriffe der Kreuzritter gegen Vilnius an. Verrückte Geschichte.


Zusammen bauten Vytautas und Jogaila Litauen zu einem der größten und mächtigsten Länder in Europa auf. Briedis schildert, wie Reisen von Europa in Islamische Länder am einfachsten über Litauen gingen, weil dieses Land bis zum Schwarzen Meer reichte und reisen so einfacher und sicherer war.
13 Königreiche soll Vytautas erobert und 10.000 gesattelte Pferde besessen haben.

So geht das Buch immer weiter.

Zitate aus Reisebeschreibungen, etwas Geschichte, mal ernst mal ironisch.
Etwas Geschichte und Ironie: Kasimir, ein Enkel von Jogaila, sollte Nachfolger seines Vaters Kasimir IV. als König von Polen werden. Leider konnte oder wollte der Arme keine Familie gründen.

Briedis spekuliert auf Impotenz, das deutsche Wikipedia beschreibt nur seine tiefe Religiosität. Mit 25 fand man Kasimir in Betpose tot im Eingang einer Kirche in Litauen.

Da die Katholische Kirche gerne Heilige in Litauen haben wollte (auch als Abwehr gegen die orthodoxe Ostkirche), fand man irgendwann irgendwelche Wunder, die Kasimir vollbracht haben sollte und tatsächlich wurde er im 17. Jahrhundert zum Schutzheiligen von Litauen. Und zum Patron der Keuschheit.

Kasimir Kirche Vilnius

St Kasimir Kirche Vilnius


Und das Buch ist voll mit solchen geschichtlichen Hinweisen, von denen ich viele nicht kannte.
Etliche Litauen-Reisende kommen zu Wort. Die bekanntesten sind Age Meyer Benedictsen (der ein interessantes Buch über das erwachende Litauen geschrieben hatte, leider kaum zu bekommen), Joseph Brodsky, Alfred Döblin, Georg Forster, Joseph Frank, Dostojewsky, Günter Grass, Hermann Kruk, Erich Ludendorff und viele mehr!


Interessant die Entwicklung von Vilnius/Wilno.


1517 schreibt Sigismund von Herberstein, dass es in Vilnius mehr russische Kirchen gibt als römische, im 16. Jahrhundert seien die Amtssprachen Polnisch, Lateinisch, Alt Weißrussisch, Hebräisch, Deutsch und Armenisch gewesen.

Armenisch…interessant. Halt am Ende des litauischen Reiches am Schwarzen Meer. Auch ein christliches Land.


1576 schreibt ein Franz Hogenberg, Vilnius sei von einer Mauer umgeben. Die meisten Häuser seien aus Holz, hätten keine Schlafzimmer (und keine Betten und Küchen). Die Einwohner, besonders die in den Vorstadthütten lebten, seien ungebildet, faul, träge und unterwürfig, ohne Sinn für Kultur und Wissenschaft. Die Einheimischen tränken Bier und Honigwein und mögen Zwiebeln und Knoblauch.
Zumindest das letzte ist ja bis heute geblieben.


1804 schildert der Wiener Arzt Josef Frank Vilnius als chaotische Stadt mit vielen Steinhäusern, wobei die Holzhäuser aber weit überwiegen. Das Rathaus im italienischen Stil sei schön, aber die Stadt furchtbar schmutzig. Der Rathausplatz sei voller Händler, die Straßen ungepflastert und voller Müll, bei Regen ein Sumpf und überall würden die Schweine rennen…


1812 war Napoleon auf dem Weg nach Moskau in Vilnius. Anfänglich lachte er noch über das Angebot von Friedensgesprächen durch Zar Alexander („Bevor der Monat um ist, werden sie auf den Knien vor mir rutschen“).  Briedis schildert Napoleons Feldzug, die noch ausgelassene Etappe in Vilnius, den Wintereinbruch in Moskau und die chaotische Flucht.  Geschichtskundige werden die Details wohl alle kennen. Für mich war da viel Interessantes und Neues dabei.

Während Napoleon zurück nach Paris eilt, geht es seiner Armee deutlich schlechter.
Viele seiner Männer finden in Vilnius ihr Ende:

„The hospital of St. Basil presented the most awful and hideous sight: seven thousand five hundred bodies were piled like pigs of lead over one another in the corridors; carcasses  were strewn in every part; and all the broken windows and walls were stuffed with feet, hands, trunks and heads to fit the apertures, and keep out the air from the yet living. The putrefaction of the thawing flesh, where the parts touched and the process of decomposition was in action, emitted the most cadaverous smell.”

Briedis, wie Dovid Katz auf dem Buchrücken sagt, schafft es die Entwicklung von Vilnius so zu beschreiben, wie es eben in den vergangenen Jahrhunderten war. Und zum Leidwesen der litauischen Nationalisten war Vilnius, Wilna, Vilne oder Wilno eine internationale Stadt mit, zumindest in den letzten Jahrhunderten, sehr geringem Anteil an ethnischen Litauern. Polnischer Adel und Kirche, jüdische Händler und Gelehrte.     

1784 schildert William Coxe seine Eindrücke: „Wenn man nach einem Übersetzer fragt, bringen sie einen Juden; kommst du zu einem Gasthaus, ist der Wirt ein Jude, brauchst du Pferde für die Postkutsche, besorgt sie ein Jude und der Fahrer ist auch ein Jude. Will man etwas kaufen, ist ein Jude der Händler “

Die Gemeindeverwaltung von Vilnius bestand laut Briedis im 17. Jahrhundert aus ca. 50% Polen, 30% Ruthenen (Weißrussen bzw. Ukrainer), 8% Deutsche, 4% Italiener und eine Minorität an Litauern und Ungarn. (Juden durften keine Ämter übernehmen).

Bernard Pares, britischer Beobachter bei der russischen Armee im I. Weltkrieg, bezeichnete Vilnius als größte jüdische Stadt in Russland.
1915 zählten russische Statistiker in Vilnius etwa 200.000 Einwohner. Davon waren 40% Juden, mehr als 30% Polen, etwa 20 % Russen und ein paar Litauer, Deutsche, Weißrussen und Tartaren.
Nach dem Einmarsch zählten die Deutschen 140.000 Einwohner, von denen nach der Muttersprache 50% Polen, und 44% Juden waren. Litauer wären ihnen lieber gewesen, hielten sie diese für willfähriger als die Polen. Ludendorff dagegen schimpfte über Vilnius, dass: „… jeder Prinz in Wilna den polnischen Adel am Hof hätte, die Offiziere wären Polen, sowie die Mehrheit der zivilen Angestellten.“


1919 forderten die Litauer ihr historisches Recht auf Vilnius als Hauptstadt des unabhängigen Litauens. Die Polen wiesen das mit dem Hinweis auf die kulturelle und sprachliche Verbundenheit mit Polen zurück.
Die Russen dagegen (Feinde der Polen), versprachen den Arbeitern und Bauern Litauens Vilnius als Hauptstadt…obwohl die Stadt ja eigentlich zu Russland gehöre. (Seit 1795).
Die Juden wurden nicht gefragt.
Auch ein paar Jahre später, 1939, gaben die Russen Vilnius im Rahmen des Hitler Stalin Paktes an Litauen, die allerdings ihre ersehnte Hauptstadt nur ein halbes Jahr in Freiheit regieren konnten. Dann besetzte die Sowjetunion ganz Litauen. Vilnius blieb aber die Hauptstadt Litauens. Machtpolitik gegen Polen.


Besuchen wir heute Litauens Hauptstadt, wissen die meisten von uns nicht, was sich dort für Tragödien abgespielt haben. 90 % der Bevölkerung wurde von 1939 bis 1949 ausgetauscht. Die Juden getötet, die Polen vertrieben.
Und damit, dass erste Mal in der jüngeren Geschichte, gab es in Vilnius eine mehrheitlich litauisch sprechende Bevölkerung!
Ich finde es mutig, dass Briedis Vilnius geschichtlich gesehen als internationale und wenig litauische Stadt beschreibt. Leider belügen sich die Litauer immer selbst, wenn sie die Geschichte ihrer Hauptstadt vergessen. Das geht so weit über Menschen zu schimpfen, die in Vilnius polnisch miteinander reden. Ärgerlich, weil man so zeigt, dass man seine eigene Geschichte nicht kennt.

Es wird sich auch nicht jedem erschließen, warum die jüdische Besucherin aus Südafrika bei der Erwähnung der litauischen Patrioten, die für die Unabhängigkeit Litauens am TV-Turm kämpften, ein mulmiges Gefühl bekam. Dafür muss man einfach mehr von Litauen und dessen Geschichte wissen.
(Natürlich waren die Demonstranten am Fernsehturm 1991 Patrioten. Leider hat das Wort Patrioten in Litauen einen faden Beigeschmack: Geschichte Litauens).

Das Buch endet mit dem Gedicht "Anruf" von Johannes Bobrowski:

Wilna, Eiche
du -
meine Birke,
Nowgorod -
einst in Wäldern aufflog
meiner Frühling Schrei, meiner Tage
Schritt erscholl überm Fluss.

Ach, es ist der helle
Glanz, das Sommergestirn,
fortgeschenkt, am Feuer
hockt der Märchenerzähler,
die nachtlang ihm lauschten, die Jungen
zogen davon.

Einsam wird er singen:
Über die Steppe
fahren Wölfe, der Jäger
fand ein gelbes Gestein,
aufbrannt' es im Mondlicht. -

Heiliges schwimmt,
ein Fisch
durch die alten Täler, die waldigen
Täler noch, der Väter
Rede tönt noch herauf:
Heiß willkommen die Fremden.
Du wirst ein Fremder sein. Bald.

Laimonas Briedis schafft es, uns einiges über Vilnius' Geschichte über 600 Jahren zu vermitteln.

Interessant und kurzweilig.

Laimonas Briedis Buch hat bei Amazon Fantasiepreise. Man kann es aber im Handel in Litauen kaufen.
Zum Beispiel beim Bücherhändler Humanitas https://humanitas.lt/en/   oder knygos.lt. (Da habe ich aber keine Erfahrungen mit gemacht.)

 

Eine zweite, wahrscheinlich bessere Rezension, finden Sie von Dr. Ekaterina Mahkotina auch bei uns.

 

Die als Zitate gekennzeichneten Zeilen wurden von mir holprig übersetzt.

Kurzes Video vom 5. Europäisch-Chinesischem Literaturfest.

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