Vilnius - Eine Stadt in Europa

Vilnius Venclova

 

Tomas Venclova  Edition Suhrkamp 2006

 

Tomas Venclova ist ein litauisch-amerikanischer Schriftsteller. Geboren 1937 im damaligen Memel (Klaipeda), musste er auf sowjetischen Druck 1977 in die USA emigrieren.

 

Mit seinem 2006 erschienenem Buch "Vilnius - Stadt in Europa" macht er "seiner" Stadt Vilnius, in der er lebte und studierte, eine poetische Liebeserklärung.

Vilnius - Eine Stadt in Europa ist kein Reiseführer im herkömmlichen Sinne, sondern eine literarische Umschreibung der Vilniuser Geschichte und Kultur.

 

 

Ich bin versucht zu schreiben, dass es als Lektüre für den einmaligen Litauen Besucher zu umfangreich, zu stark ins Detail gehend ist. Tatsächlich habe ich mir für den nächsten Vilnius Besuch nur einige neue Ziele (das Mausoleum des Gaon von Vilnius, die Johanneskirche, die Kasematten der Bastei und Details der Universität, die Venclova unglaublich liebevoll und detailliert beschreibt) notiert, die wir unbedingt besuchen möchten.

Venclova gibt dem Leser auf 242 Seiten einen Einblick über die Besonderheiten der Stadt Vilnius in Europa, "die wie kaum eine zweite für das Gelingen und Scheitern des "europäischen Traums" stehen kann".

Vilnius war schon immer eine Stadt mit mehreren Kulturen. Litauer stellten anfänglich die Mehrheit der Bewohner, mit der litauisch-polnischen Nationalunion dominierte schnell die polnische Kultur, das litauische wurde aufs Land verdrängt. Der komplette Adel lebte die polnische Kultur und Sprache, fühlte sich aber durchaus als Litauer.

"Die einheimische litauische und ruthenische Oberschicht betrachtete die polnische Aristokratie mit großem Mißtrauen und hinderte sie auf jede erdenkliche Weise daran, sich auf ihren Gebieten anzusiedeln. Indes ging dieselbe lokale Oberschicht, verzückt von den polnischen Renaissance-Sitten und Freiheiten, schon bald vollständig zur polnischen Sprache über. ... Die höheren Schichten der Gesellschaft waren in jeder Hinsicht Teil des polnischen Volkes, bezeichneten sich aber hartnäckig als Litauer und widersetzten sich den "echten" Polen aus Krakau und Warschau."

Jozef Pilsudski, der Vilnius nach dem I. Weltkrieg für Polen vom neu entstandenen Staat Litauen eroberte, war nach eigenem Verständnis litauischer Herkunft, genau wie Adam Mickiewicz und Tadeusz Kosciuzko, ein Tausendsassa im Kampf für die Freiheit.

Dazu kamen die Ruthenen, [Barbara Radziwill, die litauische Ehefrau von Sigismund II. August, König von Polen und Litauen, sprach neben Ruthenisch (der Sprache der Oberschicht) auch Polnisch und wahrscheinlich etwas Litauisch] die sich heute Weißrussen nennen und deren Lebensgebiet sich Richtung Minsk verschoben hat. Im 17. und 18. Jahrhundert zogen vermehrt Juden nach Litauen und die Einwohner von Vilnius bestanden teilweise zu mehr als der Hälfte aus Juden. Der Gaon von Vilnius war weltberühmt und die Stadt bekam den Ruf das Jerusalem des Ostens zu sein.

Die verwinkelten Gassen und Hinterhöfe zeugen noch heute vom früheren quirligen jüdischen Leben. Damit war mit dem Einmarsch der Deutschen 1941 Schluss. Die Vilniuser Juden brachte man im Vorort Paneriai um. 

Nachdem mehrere Besatzungsarmeen über Vilnius hinweggerollt waren und die eine Hälfte der Bevölkerung umgebracht, die andere deportiert oder geflüchtet war, "strömten Litauer aus Dörfern und Kleinstädten , Intellektuelle, die es früher nach Kaunas, in die zweite litauische Großstadt, gezogen hatte (darunter auch meine Eltern), kurz Tausende von Menschen die zum ersten Mal die legendäre Hauptstadt ihres Volkes kennenlernten ... . Erst jetzt, einige Generationen später, bildeten sie die Mehrheit in der Stadt und fühlten sich in ihr zu Hause, die litauische Sprache dominiert auf den Straßen ....".

Ausführlich wird über die Bedeutung der Juden in Vilnius berichtet, über den Einmarsch von Zar Alexej, über Kasimir Sapieha und Karol Stanislaw Radziwill (der reichste Mann der damaligen Welt, masturbierte schon mal bei Festgelagen) und über die Verwandten von Alexander Puschkin (Alexander der Große hatte Puschkins Vorfahren angeblich auf einem Sklavenmarkt in Konstantinopel gekauft).

 

"Keiner weiß, wann die Stadt begann", zitiert Venclova aus einem Gedicht von Czeslaw Milosz. Vilnius Anfang war ein für das damalige Litauen typischer Befestigungshügel (Piliakalnis), von denen man auch heute noch welche in Kernave oder entlang der Memel von Kaunas nach Jurbarkas sehen kann.

Die Litauer verteidigten sich auf solchen Burghügeln jedenfalls gegen alle möglichen Feinde, nach den Wikingern vor allem gegen die Ordensritter. Venclova beschreibt unglaublich detailliert und kenntnisreich alle möglichen Details aus all diesen Epochen, von der Gründung bis zur Gegenwart. Und das Besondere an Venclovas ist, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, sondern auch Dinge beschreibt, die manch litauischer Patriot gerne anders ausgedrückt hätte. So beschreibt er den litauischen Staatsgründer als "nebelhafte und zweideutige Gestalt ...Wie wahrscheinlich alle Staatsgründer und Staatseiniger hatte Mindaugas keinen besonders anziehenden Charakter. Er vernichtete die Mehrheit seiner Konkurrenten (unter denen es an Verwandten nicht mangelte), nahm das Christentum an ..." und legte es wieder ab. Als seine Frau starb, nahm er einfach deren verheiratete Schwester mit Gewalt. Darauf wurde er von deren Ehemann Daumantas ermordet.

Ein Beispiel, wie plastisch Venclova beschreiben kann, hier über die Kasimirkirche:

"Die Kasimirkirche korrespondiert über eine große Distanz mit der ähnlich monumentalen, aber jüngeren Dominikanerkirche. Hier stammt das Dekor im Inneren bereits aus dem achtzehnten Jahrhundert - die Linien sind so plastisch und geschmeidig, daß sie fast irrational wirken: die Karniese vibrieren, die Umrisse der Altäre zerfließen, auf Pilastern, die Kopf stehen und deren Sockel schmaler als die Spitzen sind, funkelt eine wunderbare Orgel, die der Königsberger Meister Adam Casparini baute. Auf dem Kuppelfresko schweben die Bewohner des Paradieses in den Wolken. Diese wogenden Wolken erzeugen den Anschein, als sei die Kuppel von unregelmäßiger Form. Josef Brodsky nannte sie in einem seiner Gedichte "Gottes Ohrmuschelchen". Das graziöse Interieur der Dominikanerkirche hat eine makabre, typisch barocke Kehrseite - ein mehrstöckiges unterirdisches Gewölbe, in dem zweitausend mumifizierte Leichen liegen. Man sagt, die Opfer von Pest und Hungersnöten seien hierhergebracht worden. Niemand wußte Genaueres, doch als ich in meiner Jugend Die Pest  von Albert Camus las - es war damals ein verbotenes, heimlich nach Vilnius geschmuggeltes Buch - hatte ich die Keller vor Augen."

 

Venclova schafft es mit "Vilnius - Eine Stadt in Europa" ein kurzweiliges, bisweilen zum schmunzeln anregendes Buch zu schreiben, das Litauen und natürlich besonders Vilnius in vielen, auch dem eifrigen Litauerfahrer bisher unbekannten Details, erklärt.

Und Tomas Venclova wäre nicht Tomas Venclova, wenn er nicht manche Dinge anders sieht, als wie sie üblicherweise geschildert werden. Und das macht den Reiz seiner Publikationen aus. 

 

So z.B. die Herkunft der Litauer. Statt Ähnlichkeit mit der Indischen Kultur sieht er mehr Gemeinsamkeiten mit der lateinischen Sprache, statt den Glauben an die Gründung von Vilnius durch Gediminas Vision vom eisernen Wolf zu teilen, schildert er die Stadtgründung viel profaner, statt den anderen litauischen Intellektuellen zuzustimmen, die Vilnius nach der II. litauischen Staatsgründung 1918 als historisch begründet (oder Gottgegeben) als litauische Hauptstadt sahen, schreibt er etwas sarkastisch, warum man sich auf litauische Wurzeln beruft, die schon 600 Jahre zurückliegen, als ein heidnischer Stamm hier eine Festung aus Holz gebaut hatte. Zwischendurch war Vilnius die meiste Zeit eine multikulturelle Stadt, meist polnisch geprägt, auch jüdisch, jedenfalls lange Zeit kaum litauisch. Auch die Vilniuser Architektur wird anders beschrieben, als man es aus den Reiseführern kennt. Die Annakirche wollte Napoleon angeblich mit nach Paris nehmen? Bei Venclova hört sich die Geschichte ganz anders an. 

 

 

Tomas Venclova ist ein geistreiches und inspirierendes Buch (nicht nur) über Vilnius gelungen. Er stellt die Sehenswürdigkeiten detailliert dar. Durch seine ausgesprochen gute Bildung und sein amerikanisches Exil achtet er bei der Beschreibung der Architektur auf ihm wichtige Details, bei Geschichte und Politik folgt er nicht der öffentlichen Meinung, sondern fühlt sich der Wahrheit verpflichtet.

Er ist Litauer, Europäer und Weltenbürger.

Kaufempfehlung!

 

Am Schluss noch einige Zitate:

Viele Kinder in Litauen bekommen (besser bekamen?) die Vornamen der großen litauischen Herrscher Gediminas, Mindaugas und besonders Vytautas. Nicht so Jogaila, der Begründer der litauisch-polnischen Personalunion:

"In der Zwischenkriegszeit, als Vilnius unter polnischer Herrschaft stand und Litauen versuchte, es zurückzubekommen, wurde der Herrscher, der die beiden Länder vereinigt hatte, für die Litauer zum geradezu archetypischen Verräter: in einer litauischen Kleinstadt machte man Jogaila sogar symbolisch den Prozeß und verurteilte ihn zum Tode - 500 Jahre nach seinem tatsächlichen Tod."

 

Vilnius

"... Hier darf man es nicht eilig haben, am besten ist es, ziellos umherzuwandern. ...

Einer meiner Bekannten nannte Vilnius einmal baby Prague. Vilnius fehlt es an Postkartenschönheit, wofür man nur dankbar sein kann. Nicht homogen, mitunter sogar abstoßend, ist die Stadt immer ungewöhnlich."

 

 Zur Nationalität der Vilniuser Bürger:

"... Viele Menschen wußten nicht einmal selbst, welcher Völkerschaft sie angehörten - das betrifft vor allem die Litauer und Polen, die bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts praktisch alle binational waren: Czeslaw Milosz bezeichnete sich als letzten Repräsentanten dieser Formation und irrte sich damit vermutlich nicht."

 

 "Es heißt, Barbara [die Ehefrau vom litauisch/polnischen König Sigismund II. August] sei von seltener Schönheit gewesen ... obwohl der eine oder andere Zeitgenosse ihre Dummheit und zweifelhaften Sitten erwähnt."

 

Über die Verhandlungen zur polnisch-litauischen Union:

"Dieser Akt von 1569 stellt fest, daß zwei Staaten und Völker, Litauen und Polen, zu einem Volk und Staat verschmelzen sollten."

 

Fantastisch auch diese Sätze:

"Die Union [also die litauisch-polnische] wurde zum Mythos, der für beide Völker von unterschiedlichem Wert war und noch ist. Aus Sicht der Polen gleicht er fast dem Mythos einer Staatsgründung. ... Adam Mickiewicz sagte, Litauen und Polen seien eine einträchtige Familie geworden, wie Mann und Frau, "niemals zuvor hat es eine solche Verbindung zwischen den Völkern gegeben. ..."  Einige Historiker neigen denn auch dazu, in dieser Union ein fernes Urbild der Europäischen Union zu sehen. Die Litauer sind nicht geneigt, ihnen oder Mickiewicz zuzustimmen".

 

Simonas Daukantas schuf ein Gegenmythos zur Theorie der Personalunion (Polen/Litauen):

"Die Union war der Sündenfall des einstigen Litauen, aus den Urwäldern vertrieben, in denen sie frei und glücklich [?] waren wie im Garten Eden, wurden die Litauer in die chaotische, widersprüchliche Welt hineingezogen."

 

Venclova weist darauf hin, dass die Union besonders für die litauische Sprache beinahe das Ende bedeutete. Wer in welcher Epoche (Litauisch, Polnisch, Ruthenisch, Slawisch, Deutsch, Jiddisch) welche Sprache gesprochen hat, wissen wahrscheinlich selbst die meisten Litauer nicht. 

 

"Im Renaissance- und Barockzeitalter wurden litauische Bücher gedruckt, doch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts waren fast nur noch die Vorsilben und Endungen litauisch und fast alle Wortstämme polnisch."

 

Über Nationalitätenstreitereien (um die Universität Vilnius):

"... Aber es ist eine Misere des neunzehnten, besonders des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Zeit davor war die Universität von Vilnius weder litauisch noch polnisch, noch weißrussisch: sie war europäisch. Die Streitereien darum, wer der "echte" Besitzer des Landes und seiner Kultur ist und wer der böswillige und gefährliche Andere, sind erwiesenermaßen müßig, und man möchte glauben, daß sie im neuen Jahrhundert allmählich verhallen ..."

 

 

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