Litauen, Nationalismus und die EU
Tomas Venclova "Ich ersticke"
Litauen ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Union und hat 2015 (mit starken Ängsten in der Bevölkerung) erfolgreich den Euro eingeführt.
Die Einwohnerzahl ist vom Höchststand 1992 (3,7 Millionen) auf 2,9 Millionen gefallen, was auf die starke Auswanderung und einen erhöhten Sterbeüberschuss zurückzuführen ist.
Bei 25 % Jugendarbeitslosigkeit suchen viele junge Litauer Arbeit in der Europäischen Union, besonders in Irland, England aber auch Deutschland und Norwegen. Besonders in den englischsprachigen Ländern gibt es eine grosse litauische Gemeinschaft.
Viele, für mich gefühlt alle (Achtung: dies ist keine wissenschaftliche Abhandlung) neuen Projekte in Litauen werden von der EU finanziert. Ob es das Schokoladenmuseum der Ruta Schokoladenfabrik in Siauliai ist oder das Bison Museum nahe Panevezys, dass Kosmologische Museum in Moletai, Strassen, Trinkwasser oder Abwasserleitungen, überall steht ein Schild und verkündet, wer die Projekte bezahlt hat- natürlich die EU.
Um die Auswanderung von qualifizierten jungen Litauern zu stoppen, gibt es das Projekt "Practica", das litauische Startups finanziell unterstützt. Geldgeber (100 Millionen Euro) für Practica ist wiederum das EU-Programm JEREMIE.
Zydrunas Gaudiesius (Leiter der Kommunikationsagentur United Agencies) kritisiert, dass es zu viele Universitätsabsolventen gibt. Tatsächlich beginnen sechs von zehn jungen Litauern ein Studium, wobei ihnen Diplome für allgemeine Pädagogik oder Sport in der realen Wirtschaft nichts bringen (in Deutschland nicht anders). Tatsächlich scheinen fast alle unserer Bekannten studiert zu haben, auch wenn sie sich nach dem Sportstudium für 250 Euro im Monat als Sekretärin oder ähnliches durchschlagen müssen.
Lange Rede, kurzer Sinn: trotzdem die Litauer ihre Heimat verlassen um ihr Glück in Europa zu suchen und die Europäische Union alle möglichen Projekte in Litauen unterstützt, scheint die Europäische Union in Litauen äusserst misstrauisch gesehen zu werden. Europäisches Geld ist gerne gesehen, europäische Mitsprache, gar Forderung nach Vereinheitlichung von Rechten und Gesetzen werden abgelehnt.
Interessante Argumente kommen da zusammen: Europa verbietet Litauen die Todesstrafe, Litauen darf keine Gesetze machen, die von denen der EU abweichen. Die EU ist ein Block, genauso wie die Sowjetunion.
Diesen Eindruck von Litauen (ich weiss, es gibt nicht die Litauer), bestätigte sich durch meinen litauischen Bekanntenkreis und durch diverse Internetforen.
Dieser, natürlich nicht repräsentive, populistische Vergleich wurde bei Facebook gepostet.
In einer Buchbesprechung von Christina Parnell über Marius Ivaskevicius las ich dann, dass nicht nur ich diesen Eindruck einer zwiespältigen litauischen Haltung gegenüber Europa habe. Frau Parnell erwähnte nämlich den Aufsatz "Ich ersticke" von Tomas Venclova, der in der Zeitung Osteuropa (61. Jahrgang 1/2011) auf Deutsch erschien.
Tomas Venclova
Tomas Venclovas Text (er bekam 2014 den Petrarca Preis der Burda Stiftung verliehen) "Ich ersticke" (aus dem englischen von Andrea Huterer, litauisch Aš dustu) beginnt mit:
"Litauen auf nationalistischen Abwegen
Wir leben in einer Zeit des Skeptizismus, des freien, kritischen Denkens und des globalen Denkens. In Litauen beklagt die geistige Führungsriege Euro-Kollaboration und Indoktrination im Zeichen der Globalisierung. Sie predigt Intoleranz gegen Minderheiten und verschanzt sich hinter einer Mauer aus Fremdenhass und vermeintlichem Nationalstolz. Polen, Juden, Russen und neuerdings auch die USA gelten als feindliche Mächte. Diese Haltung ist auch ein Erbe der Sowjetzeit, als den Menschen eine primitive Mentalität eingeimpft wurde, die Xenophobie und Hass auf "Kosmopoliten" beinhaltete."
Venclova entwickelt einen geschichtlichen Vergleich mit der griechischen Antike, der sehr schön zu lesen ist.
Venclovas Empfinden über das heutige Litauen gipfelt in Sokrates Worte: "Hilfe ich ersticke".
Fast alle litauischen Intellektuellen hätten sich von Sokrates weltoffenen, immer fragenden Philosophie entfernt. Heute ist die Rede von traditionellen litauischen Werten als Gegenstück zu den dubiosen Werten Europas und der Globalisierung.
"Globalisierung ist vermeintlich ein bloßes Deckmäntelchen und Pseudonym für skrupellosen Raubkapitalismus und die einzigen, die von diesem Raubkapitalismus profitieren, sind dunkle internationale Mächte.
In der Regel wird das nicht laut ausgesprochen, aber man gibt doch recht deutlich zu verstehen, dass damit die Juden (etwa Georges Soros [A.K.: ein US Milliardär, der mit der OSF (Open Soros Foundation) viel für Litauen getan hat] gemeint sind."
"Für viele unterscheidet sich diese Euro-Kollaboration nicht von der Kollaboration mit den Sowjets, nur dass sie vielleicht noch schlimmer ist, weil die Nation nun in schnellerem Tempo verschwindet.
...
Ein echter Litauer ist ausschliesslich der, der Russen, Polen, Juden und auch Leute aus dem Westen nicht mag, ja besser noch hasst. Die einzigen, die er vielleicht mag, sind Palästinenser...
...
Das Parlament macht sich zum Gespött Europas - löst aber ebenso häufig Horrorgefühle in Europa aus, indem es ein Gesetz verabschiedet, das den Buchstaben W aus den Pässen verbannt und einen Bann über Informationen über Sex verhängt, während Personen, die sich selber als Freiheitskämpfer betrachten, Steine auf Teilnehmer einer "Schwulenparade" werfen (aber Gott behüte niemals auf solche eines Aufmarsches von Neonazis)."
Venclova berichtet von einem Interview mit einer jungen Frau (nicht in der litauischen Presse), die auf die Frage nach dem Unterschied zwischen der politischen Szene in Ost und Westeuropa antwortete: "Sehen Sie, ihr habt keine Linke. Diejenigen, die ihr Linke nennt, nennen wir Rechte. Und die, die ihre Rechte nennt, nennen wir Bekloppte."
Venclova schreibt, dass ein primitiver, unreflektierter Nationalismus ans Ruder gekommen ist und es ein Verlangen gibt, Isolation und Provinzialität zu verewigen.
"Die Tatsache, dass Litauen die längste Zeit seiner Geschichte eine Agrargesellschaft von Kleinbauern war, verleiht dieser Art von Nationalismus Rückhalt und Stärke."
"Heutzutage legitimieren Staaten ihr Existenzrecht nicht mit den heroischen Taten und Leiden ihrer Urahnen, sondern mit einer funktionierenden Wirtschaft, Justiz, Administration und Selbstverwaltung."
Venclova spricht vom gefährlichen litauischen Bermudadreieck, über die Konflikte mit Russen, Polen und Juden bzw. mit Russland, Polen und Israel. Weiter zeigt er die Entwicklung einer Theorie des "Doppelten Genozids" auf, die Aufwiegung der Verbrechen gegen die litauischen Juden mit den Verbrechen der sowjetischen Besatzer (mit denen Teile der litauischen Juden sympathisierten).
[A.K.: ähnliche Tendenzen gibt es in Deutschland: "Die Haltung der Deutschen und ihr seelischer Platz ist seit 1945 unter der Bombe und nicht im Bomber" Reinhard Mohr]
"Zweifellos sind die Litauer keine Nation von Judenmördern. Doch unglücklicherweise hat es in jüngster Zeit Aktionen gegeben, die Argumente dafür liefern, die Litauer eine Nation von Fürsprechern von Judenmördern zu nennen. Was immer man über Efraim Zuroff denken mag, er hat Recht, wenn er sagt, dass die Litauer, anders als die Kroaten, keinen einzigen Judenmörder verurteilt haben. Im Gegenteil gibt es, auch wenn dies in der Öffentlichkeit und von den Gerichten so nicht artikuliert wird, eine deutlich wahrnehmbare Haltung, dass es vollkommen richtig sei solche Verfahren stillschweigend zu sabotieren. Wir sind nicht reif genug zu verstehen, dass es unzulässig ist, einen Schwerverbrecher zu rechtfertigen oder zu unterstützen, nur weil er ein ethnischer Litauer ist (der sich selbst als Patrioten betrachtet) und seine Opfer oder Ankläger keine Litauer sind."
Seine Einschätzung zur Provisorischen Regierung (PG) des Jahres 1941 ist sicherlich für manchen Litauer harter Tobak aber in meinen Augen die bittere Wahrheit.
Ein überaus lesenswerter Artikel, den man sich beim Leserdienst der Zeitschrift Osteuropa auf Deutsch bestellen kann.
Am Schluss ein Wort in eigener Sache:
Meine Frau fragte mich, nachdem sie diesen Text gelesen hatte, ob ich Litauen etwas böses wolle. Natürlich ist dem nicht so. Wer über ein Land nur Gutes schreibt und so tut als ob es keine Probleme gibt, der erweist diesem Land einen Bärendienst.
Den Originaltext "As dustu" (Ich ersticke) lesen Sie mit freundlicher Genehmigung des Autors hier "As dustu"
Die sehr gute Übersetzung von Andrea Huterer von der Deutschen Gesellschaft Osteuropa unter "Ich ersticke"
Einige seiner Gedichte findet man in Text und Ton, sogar mit optionaler deutscher Übersetzung bei der bemerkenswerten Website Lyrikline.
Ein Gespräch von Venclova mit dem litauisch-polnischen Dichter Czeslaw Milosz kann man unter "Das polnische Problem" lesen.
Sehr empfehlen können wir seine philosofische Betrachtung von Vilnius: Vilnius-eine Stadt in Europa