Mein Name ist Maryte
Von Alvydas Šlepikas und Markus Roduner (Übersetzer)
Rezensionen von Arthur Hermann und Arvid Friebe
Einer beginnt den Krieg, einer geht als Sieger hervor, Witwen und Kinder aber zählen stets zu den Verlierern. Der Zweite Weltkrieg fand ein Ende, sie haben ihn verloren, denn die Gefallenen waren ihre Väter, die Witwen ihre Mütter. Die Welt war voller Wut und ermattet. Und sie — nur Kinder. Wolfskinder.
»Mein Name ist Maryte« erzählt die lange in Vergessenheit geratene Geschichte ostpreußischer Kinder, die nach Kriegsende und dem Einmarsch der Roten Armee von Hunger und materieller Not getrieben über die Memel gingen, um sich für Brot und Obdach bei litauischen Bauern zu verdingen.
Der litauische Autor Alvydas Šlepikas und der in Litauen lebende Schweizer Übersetzer Markus Roduner bekamen als Autor und Übersetzer des Romans "Mein Name ist Maryte" den Georg Dehio-Buchpreis des Deutschen Kulturforum östliches Europa e.V. verliehen.
Die folgende Rezension von Arthur Hermann erschien zuerst in der 2016er Ausgabe der Annaberger Annalen, deren Mitherausgeber er ist. Hermann ist (u.a.) ausgewisener Experte für die deutsch-litauischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die weiter unten folgende Rezension von Arvid Friebe erschien zuerst bei Amazon. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
Alvydas Šlepikas: Mein Name ist Marytė. Roman. Aus dem Litauischen von Markus Roduner. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2015. 199 S. (Bibliothek der Entdeckungen. 9.) ISBN 978-3-95462-535-2
Obwohl die sogenannten Wolfskinder in den letzten 20 Jahren einen festen Platz nicht nur in der Historiographie, Erinnerungsliteratur und sogar Film erobert haben, gibt es in der Belletristik bislang lediglich diesen einzigen Roman von Alvydas Šlepikas aus dem Jahr 2012, der jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Als Übersetzer fungiert Markus Roduner, ein ausgewiesener Übersetzer aus dem Litauischen, der am Institut für Litauische Literatur und Folklore in Vilnius beschäftigt ist.
Das Litauische Kultusministerium hat diese Übersetzung dankenswerterweise gefördert. Man kann davon ausgehen, dass dieser Roman, der in Litauen zum Buch des Jahres 2012 gewählt wurde, einen ähnlichen Erfolg auch in Deutschland haben wird.
Der Roman verarbeitet Erinnerungen von zwei aus Ostpreußen stammenden Frauen, die in Litauen heimisch wurden. Für Wolfskinder bezeichnend ist die Notiz des Autors, dass eine der Erzählerinnen ihren Namen nicht genannt haben wollte mit der Aussage „Alles ist für mich seit Langem tot“. Der Autor stützt sich zwar auf diese wahren Geschichten, geht aber frei damit um. Die Handlung spielt sich in Nordostpreußen und in Litauen um die Jahre 1946/1947 ab, als Zehntausende Ostpreußen vor Hunger nach Litauen flüchteten und hier nicht nur Lebensmittel, sondern auch eine Bleibe suchten. Zwei ältere Kinder zweier verwandten Familien, die vom Verhungern bedroht sind, wagen eine Fahrt mit dem Zug nach Litauen, um dort Lebensmittel zu erbetteln und somit ihren zu Hause gebliebenen Müttern mit Geschwistern zu helfen.
Als eine der Mütter nach einer Massenvergewaltigung stirbt, fahren auch die älteren Töchter allein nach Litauen, wobei sie im Zug entdeckt werden. Die eine von ihnen springt aus dem Zug, sodass nur das andere Mädchen Litauen erreicht. Der Autor schildert das mühsame Betteln dieser Kinder in Litauen ausführlich, mal gelingt es, eine Bleibe über Nacht zu finden und etwas Essen zu bekommen, doch genauso oft werden sie davon gejagt. Ein Bauer lässt sogar seinen Wolfshund auf die Kinder los. Zwar kann das eine Kind den Hund mit dem Messer töten, wird aber verletzt und verliert seinen Begleiter aus den Augen, so dass fortan der Begleiter allein unterwegs ist. Er hat Glück, wird im kranken Zustand von einem sowjetischen Offizier mit seiner Frau aufgenommen, gesund gepflegt und bekommt für die Rückreise nicht nur Lebensmittel, sondern auch einen Geleitbrief. Doch zu Hause angekommen findet er seine Familie, die offenbar zum Abtransport nach Deutschland geholt wurde, nicht mehr im alten Schuppen. Er schließt sich dem folgenden Transport in die Sowjetzone an. Auch dem in Litauen angekommenen Mädchen gelingt es, Aufnahme bei einem jungen Ehepaar zu finden, aber die Schwester der jungen Frau zeigt das Paar bei der Miliz wegen Aufnahme eines deutschen Kindes an. Das Paar wird nach Sibirien verbannt, kann das deutsche Kind aber im letzten Moment zu einer anderen Schwester in der Stadt wegschicken, wo es herzlich aufgenommen wird.
Der Roman, dessen Verfasser auch als Drehbuchautor arbeitet, ist eigentlich eher als Drehbuch verfasst und besteht aus einzelnen kurzen Szenen: Hier werden Hungergefühl, elendes Sterben, Hilfslosigkeit der kleinen Kinder, gute und schlechte Menschen im Kaliningrader Gebiet und in Litauen, Glück und Unglück geschildert. Das Bewerten der Schicksalsschläge überlässt der Autor dem Leser, er vermittelt lediglich ein erschütterndes Bild der Nachkriegszeit mit ihrer Brutalität und Züge von Menschlichkeit. Der Roman ist fast überladen von bekannter Wolfskindersymbolik: Immer wieder Wald, obwohl es in Litauen viel weniger Wald als im heutigen Deutschland gibt, Wölfe kommen zwar nicht direkt vor, aber man fürchtet sich vor ihnen und ein Wolfshund verursacht eine Tragödie. Natürlich fehlt es auch nicht an Begegnungen mit Partisanen und Miliz, immer wieder wird von der Überquerung der Memel geredet, obwohl die meisten Ostpreußen nicht über die Memel kamen, sondern über den südlichen Teil Litauens mit der einzigen in der Nachkriegszeit funktionierenden Zugverbindung, die erst bei Kaunas die Memel überquert. Die Verbannung des Ehepaars wegen der Aufnahme des deutschen Kindes ist zwar sehr dramatisch und effektiv geschildert (eine Schwester zeigt die andere Schwester aus Neid auf ihre glückliche Ehe an und wird dann dennoch gemeinsam mit den Angezeigten nach Sibirien verbannt), ist aber wenig glaubhaft, denn in Litauen unternahm der sowjetische Staat in der Regel nichts gegen die bettelnden Deutschen.
Dennoch ist der Roman im Ganzen gut gelungen, und dem Übersetzer ist es zu danken, dass er der dürren Sprache des Originals in der Übersetzung mehr Kraft und Gefühl verlieh.
Arthur Hermann