Die Litauische Nationale Union
Porträt einer (Staats-)Partei
Michael H. Kohrs
Die Litauische Nationale Union (LTS) und ihre Bedeutung für das autoritäre Regime der Zwischenkriegszeit in Litauen 1924 bis 1940
Dieses Buch wurde 2010 als Dissertation des Autors an der Freien Universität Berlin eingereicht.
Als Hauptthema beschäftigt es sich mit der LTS, der „Lietuvių tautininkų sąjunga“, also der Litauischen Nationalen Union und ihre wissenschaftliche Klassifizierung (in etwa so: Elitepartei, Rahmenpartei oder Honoratiorenpartei). Ehrlich gesagt, hätte eine rein wissenschaftliche Untersuchung der LTS außer irgendwelchen Fachleuten niemand interessiert. Kohrs bindet aber diese wissenschaftliche Untersuchung der LTS (für seine Dissertation) in einen größeren, sehr spannenden Rahmen der litauischen Wiederauferstehung als Staat nach dem 1. Weltkrieg bis zum Untergang des freien Litauens 1940 ein.
Wenn man also die wissenschaftliche Untersuchung der LTS ignoriert, liefert Kohrs eine überaus detaillierte und spannende Schilderung der Entwicklung Litauens ab, die ich bisher in keinem anderen Buch so gelesen habe.
Die LTS war eine kleine unbedeutende Splitterpartei, der aber seltsamerweise einige bedeutende litauische Politiker angehörten, wie Augustinas Voldemaras und Antanas Smetona.
Symbole der LTS. Links mit Hakenkreuz, oder wie gerne gesagt wird, dem indischen Symbol, der Sonne 1931, rechts das neue Symbole im neuen freien Litauen 1989.
In der Mitte die stilisierte Gedeminenburg. Die drei traditionellen Holzhäuser verkörpern die gesellschaftlichen Gruppen in Litauen: Arbeiter, Bauern, Intellektuelle. Das Hakenkreuz bedurfte auch 1931 in Litauen einiger Erklärung durch die Parteiführung. Das Swastika Symbol hätte keinesfalls etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun oder deute auf Antisemitismus hin. (Bilder aus dem Buch).
Die politischen Zeiten in Litauen sind wild. Deutschland hatte im 1. Weltkrieg das sowjetische Litauen besetzt, den Krieg verloren und befindet sich auf dem Rückzug. Sowjetische Truppen bedrohen das Land, Polen möchte sein heiliges Wilna (Vilnius) behalten und die Litauer träumen von Kleinlitauen, das vom Völkerbund verwaltet wird. Litauen verliert durch den polnischen Einmarsch in Vilnius (in dem zu dieser Zeit keine Litauer wohnten) seine erträumte Hauptstadt und besetzt dafür mit infiltrierten Soldaten in Zivil und Mitgliedern des litauischen Schützenbundes (Šaulių sąjungai) das Memelland. Dabei sterben 12-15 Litauer, ein bis zwei Franzosen und ein deutscher Gendarm (Zahlen nach Kohrs und anderen Quellen). Die Memelländer wollen aber gar nicht zu Litauen gehören und die Anzahl der später im Parlament von Klaipeda sitzenden litauischen Parteien ist rudimentär.
In dieser Zeit ist Litauen eine Demokratie, die immer liberaler wird, in der sich verschiedene Parteien an der politischen Willensbildung beteiligen dürfen.
Dies passt aber einer zunehmend nationalistisch werdenden Strömung von Politikern und Militärs nicht. Dazu gehören Augustinas Voldemaras und Antanas Smetona, der aus seiner Ablehnung eines Mehrparteiensystems keinen Hehl macht. Für Smetona ist das Parlament eine Diskussionsbude, die außer zum Palavern zu nichts taugt. Ein nationaler Führer muss her um mit einer nationalen Einheitsfront die Nation voranzubringen. Smetona kennt auch schon den geeigneten Führer, nämlich ihn selbst. Michael H. Kohrs schildert diese Entwicklung, den Werdegang der verschiedenen litauischen Parteien, die Einnahme (und die fiktiven Abkommen) von Wilna durch Pilsudski (oder besser General Zeligowski), der darauf erfolgte Überfall auf das Memelgebiet (wahrscheinlich mit Genehmigung der Reichswehr, die Klaipeda lieber in der Hand des kleinen Litauen haben wollte als weiterhin besetzt von den Franzosen oder noch schlimmer von den Polen).
1924 wird die LTS, (Litauische Nationale Union) als Nachfolger anderer politisch erfolgloser Parteien gegründet. Vorsitzende wird unter anderem Antanas Smetona Ehefrau Sofija. Antanas Smetona wird Ehrenvorsitzender.
Und so wird Smetona das auch bis zu seiner Flucht 1940 halten. Er hält sich offiziell vom Regieren fern, hält aber die Zügel fest in der Hand und bestimmt alles. Wird aber für nichts verantwortlich gemacht, da ja offiziell andere die Politik machen.
Smetona auf dem Parteitag über die Aufgabe der LTS:
„Unsere Parteien bekämpfen sich gegenseitig derart mit kriegerischen Mitteln, dass man dahinter kaum noch ein einiges Litauen erkennen kann. Parteiische, nicht mehr staatstragende Parolen haben unsere Nation durchdrungen, im Namen des Staates durchgeführte Maßnahmen, getarnt als „Wohl der armen Leute“, verfolgen den Nutzen der Parteien oder einzelner Personen; die Parteien achten nicht mehr darauf, wie einer ihrer Schritte sich auf den Staat auswirkt sondern wie er der einen oder anderen Bevölkerungsschicht gefällt. Wenn es so weitergeht, dann verschwindet die Staatsidee hinter Parteipositionen, bleiben unter sich zerstrittene Bevölkerungsgruppen, fällt die Nation auseinander, die keine gemeinsame Staatsidee mehr findet. Was sollen jetzt die Tautininkai (Nationalen) tun? Eine feste Gemeinschaft bilden und sich organisieren, dabei nicht begrenzte Parteiziele, sondern das Wohl der Allgemeinheit im Blick haben…“
(Man vergleiche diese Sätze mit dem Herrnhaus, dass Smetona 1934 anlässlich seines 60. Geburtstags vom Staat (der er ja selber war) geschenkt bekommen hat: https://alles-ueber-litauen.de/ziele-in-litauen/herrenhaeuser/antanas-smetona-herrenhaus )
Smetona hält das Volk für unfähig und sich für unverzichtbar.
Und so kam es, dass es in Litauen, trotz einer „relativ stabile(n) handlungsfähigen Regierung“ (Kohrs) zu einem Putsch kam. Wie gesagt, nicht weil die Regierung so schlecht war oder wegen Mängel im litauischen politischen System, sondern „wegen mangelnder Bereitschaft entscheidender Akteure, die Regeln dieses Systems einschließlich der Möglichkeit eines Regierungswechsels anzuerkennen“ (wie heute Trump).
Die gewählte Regierung wurde am 17. Dezember 1926 von Angehörigen der Armee weggeputscht, „aber die eigentliche Verantwortung für die Ereignisse liegt bei den Teilen der politischen Elite, die die Macht im Staat gewinnen bzw. zurückgewinnen wollten und denen zu diesem Zweck jedes Mittel recht war.“
Laut Kohrs ist klar, dass hochrangige Vertreter der Christdemokraten und der LTS in die Vorbereitungen des Putsches eingeweiht waren.
Es ist spannend zu lesen, welche Gesetze die regierenden Sozialdemokraten und die Bauernpartei erließen und wie die Christdemokraten damit unzufrieden waren. Der Leiter des Armeestabes Kazys Skirpa schrieb damals interessanterweise, dass der demokratischen Regierung keinerlei Gefahr durch die schwachen Kommunisten drohten, sondern von der Opposition und den Christdemokraten. Gegner wäre nicht die Regierung Slezevicius, sondern die gesamte demokratische Ordnung.
Nach dem erfolgreichen Putsch der Armee in Kaunas (hier fällt wieder Kazys Skirpa auf, der mit Hilfe von Polizeikräften ziemlich allein Widerstand leistete. Meine Verwunderung über diese Aktionen von Skirpa deshalb, weil er die rechtsradikale antisemitische LAF gründete und in Berlin den Überfall auf die Sowjetunion (und die Besetzung Litauens durch Deutschland) koordinieren sollte) bat der Putschist Major Plechavicius Antanas Smetona sich zu „opfern“ und das Amt eines „Staatsführers“ zu übernehmen.
Der Putsch erfolgte nach Rückversicherung bei den Sowjets (die Putschisten hatten Angst vor einer militärischen Aktion der Polen). Es kamen kaum Reaktionen aus der internationalen Politik.
Seltsamerweise haben die Sowjets auch den Tautininkai Geld gegeben. Kohrs berichtet von Geldübergaben der Botschaft an Sofija Smetona und Kreve-Mickevicius.
Nachdem es 1927 zu Umsturzversuchen von Sozialdemokraten kam, entschloss sich die LTS neben der Schützenunion noch eine weitere regierungstreue, verdeckt arbeitende paramilitärische Organisation zu schaffen. So entstand die „Gelezinas Vilkas“, Eiserner Wolf, der aber zuerst nur „Sportverband“ hieß. Zu Voldemaras und Gelezinas Vilkas:
Der Eiserne Wolf hatte das von Antanas Smetona abgesegnete Motto:
„Ehre der Nation und Wohl des Staates“.
Es sollte eine innere Armee und aktive Wachtruppe sein, im Kampf gegen antinationale und fremde staatsfeindliche Elemente. Ihre Mitglieder waren zu absoluten Gehorsam gegenüber ihres Oberhauptes Voldemaras verpflichtet. Die GV wurde zu einer Art litauische SA.
Der Eiserne Wolf führte sich ungestüm auf wie sein Chef Voldemaras, was zur Entlassung Voldemaras aus der Regierung führte und zu einem endgültigen Bruch mit Smetona. 1930 wurde Voldemaras aus der Partei ausgestoßen und Mitglieder der Gelezinas Vilkas ausgeschlossen.
Während die Parteiführung und Regierung mit Smetona weiter einen konservativen gemäßigten Kurs fuhr, hatten sich Teile der Partei besonders mit dem Eisernen Wolf radikalisiert. Smetona arbeitete auf eine Besserstellung der Litauer in der Gesellschaft hin, es wurden Genossenschaften gegründet und versucht den vorwiegend jüdischen Kaufleuten Anteile wegzunehmen. Auch durften Juden keine staatlichen Jobs annehmen. Ansonsten ließ man die jüdische Bevölkerung in Ruhe und schützte sie ausdrücklich vor Übergriffen.
Die Voldemaras Bewegung und der Gelezinas Vilkas dagegen sahen die Juden als Feind, wirtschaftlich und politisch, was sich nach 1941 als furchtbar erweisen sollte.
Smetona regierte Litauen als Diktator und es ist bei der Lektüre dieses Buches nicht feststellbar, warum eine demokratische Regierung schlechter oder viel anderes als die LTS regiert hätte. Es herrschte weiterhin Geldknappheit, Wilna war von den Polen eingenommen, das Memelland wollte weiterhin nicht nach Litauen und kam nach einem Ultimatum der Nazis am 21. März 1939 wieder zu Deutschland.
1938 fordern die Polen von Litauen ultimativ die diplomatische Anerkennung. Litauen, dessen Armee gerade mal zu Kämpfen mit Lettland geeignet wäre, muss sich beugen.
1939 fällt das Memelland zurück an Deutschland.
Da die litauische Regierung neutral bleibt und sich weigert mit den Deutschen in Polen einzumarschieren, verliert Hitler das Interesse an Litauen und verschiebt mit dem geheimen Zusatzprotokoll des Freundschaftsvertrags mit der Sowjetunion vom 28. September 1939 die Einflussspäre Litauens nach Osten.
Sofort nötigte die Sowjetunion Litauen einen Beistandspakt auf und durfte 20.000 Truppen in Litauen stationieren. Dafür wurde Vilnius, nun von den Sowjets besetzt (Polen war ja von den Nazis besetzt) an Litauen zurückgegeben. Die Litauer sagten dazu:
„Vilnius musu, Lietuva rusu“. S. 327 Vilnius gehört jetzt uns, Litauen aber den Russen.
Am 25. Mai 1940 begannen die Sowjets Litauen komplett und offiziell einzunehmen und zwar wie sie es immer machen. Mit fadenscheinigen Argumenten und Gewalt. Am 14. Juni 1940 stellt Moskau ein Ultimatum wichtige (unschuldige) Persönlichkeiten in Litauen festzusetzen. Smetona weigerte sich, eine militärische Konfrontation mit den schon in Litauen stehenden sowjetischen Truppen sah man zu Recht als ausweglos an. Smetona entscheidet sich zu fliehen. Ironie des Schicksals: an der Grenze wurde er beinahe noch von litauischen Grenzschützern aufgehalten, die aus Kaunas den Befehl (der Sowjets) hatten, die Grenzen dicht zu machen.
Interessant auch die abschließende Beurteilung von Michael H. Kohrs, ob die LTS-Regierung in Litauen faschistisch war oder nicht. Von litauischer Seite wird diese Einordnung unisono zurückgewiesen. Vor der Lektüre des Buches hätte ich das zumindest für die Regierung Smetona auch ausgeschlossen. Auch Kohrs schreibt, dass Smetona das italienische faschistische System ablehnte und das Regime von biologischem oder einfachen Rassismus weit entfernt war. Smetona hätte sich schon früh vom Rassenwahn der Deutschen distanziert. Klar, Voldemaras und seine Anhänger waren Antisemiten und Freunde der Deutschen, aber nicht Smetona.
Kohrs schildert die unterschiedlichen Forschungsansätze einiger Historiker im Hinblick auf etwaigen litauischen Faschismus und kommt dann selbst zum Schluss:
„Unter Zugrundlegung dieser Prämisse erscheint es nicht mehr so abwegig, die mittelosteuropäischen Regime in die Nähe des Faschismus zu rücken“. S.355
Von den stellenweisen langweiligen Episoden der wissenschaftlichen Untersuchung der Parteien in Litauen abgesehen, bildet Michael H. Kohrs Buch über die „Litauische Nationale Union“ einen spannenden, detaillierten Überblick der litauischen Zwischenkriegspolitik.
Einziges Manko (bis auf die zu wissenschaftlichen Parteiuntersuchungen), es gibt kein Personen- und Sachverzeichnis. Und natürlich der hohe Preis.
Ansonsten absolut empfehlenswert!
Von Michael H. Kohrs gibt es noch einen Beitrag im Buch „Holocaust in Litauen“ Die offizielle Darstellung des Holocaust in der Sowjetzeit (1945-1990)
https://alles-ueber-litauen.de/litauen-buecher/krieg-judenmorde-und-kollaboration-1941